Tiefe, abgedämpfte Trommelschläge – in der Entfernung hört man hohe Stimmen. Geräuschfetzen eines Blasinstruments, einer Posaune, mischen sich hin und wieder ein. Die Stimmen kommen näher: Es sind drei schwarzgekleidete Frauen. Sie singen ohne Worte, langanhaltende Klänge, die lauter werden. Sie finden einen Platz auf der Bühne zwischen Instrumenten und Wäschezuber; auch der Posaunist gesellt sich dazu. Der Gesang formt sich zu Worten: „Herr! Herr! Unterwunden hab‘ ich mich, zu singen dir Bebenden Lobgesang“. Und eindringlicher: „Da steht im Heiligtum ein Buch, und im Buche geschrieben all die Millionenreihen Menschentage – Da steht geschrieben …“
Es folgt eine sehr lange, von einzelnen oder allen drei Sängerinnen abwechselnd gesungene, gesprochene, geflüsterte, dann wieder geschriene Aufzählung apokalyptischer Bilder und Vorkommnisse, darunter ein sich bewegender Klangteppich von Trommeln, Geräuschen, Posaunentöne, Wasser …
„Die Bücher der Zeiten“ ist eine Komposition von Mike Svoboda aus dem Jahre 2010. Sie basiert auf dem gleichnamigen Gedicht von Friedrich Hölderlin, der 1770 in Lauffen am Neckar geboren wurde und 1843 im Alter von 73 Jahren in Tübingen starb. Das Gedicht schrieb der damals sehr junge Mann um 1787, einer Zeit der Umwälzungen, der zunehmenden Industrialisierung, der Französischen Revolution, der Aufklärung. „Ich konnte dem Frust der Menschheit etwas abgewinnen", sagte Svoboda, der Komponist, beim Künstlergespräch „Mit dem Star an der Bar“ vor dem Konzert, das am späten Freitagabend in der Orangerie im Schlossgarten stattfand.
Das Bedrohliche, Schicksalhafte des Gedichts, der Musik hat durchaus einen Bezug zur aktuellen krisengebeutelten Weltlage. Er habe das Stück geschrieben für Menschen, die ihm sehr viel bedeuten, wie die Sängerinnen Anne-May Krüger, mit der er verheiratet ist, Johanna Zimmer und Einat Aronstein; alle seien miteinander befreundet. Apokalypse und Liebe – wie passt das zusammen? „Es gibt immer eine andere Seite,“ sagte er, „eine Hoffnung.“ In Hölderlins Gedicht führt Christus als Erlöser die Wende herbei. „Ich wollte etwas schreiben, das in eine Kirche passt, aber nicht so christlich ist,“ erklärte er. So endet Gedicht hoffnungsvoll; die Geräusche der Musik verklingen, leise Trommeln und kleine Klingeln ertönen, bis alles zum Stillstand kommt.
Svoboda, ein in Deutschland lebender amerikanischer Komponist, Dirigent, Posaunist, hatte auch die in dieser Spielsaison der Schwetzinger SWR-Festspiele uraufgeführten Oper „Adam und Eva“ geschrieben. Das Libretto für die Oper hatte die in Berlin geborene Sängerin und Musikwissenschaftlerin Anne-May Krüger verfasst. Beim vertonten Hölderlin-Gedicht „Bücher der Zeiten“ sang die Mezzosopranistin die Rolle einer der drei Nornen. „Ich habe immer an die Nornen gedacht,“ sagte sie. „Es war eine tolle Aufgabe, soviel mit der Stimme machen zu können,“ fügte sie hinzu. – Nornen sind die nordischen Schicksalsgöttinnen Urd, Verdandi und Skuld und stehen für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; sie leben in der Weltenesche Yggdrasil, von wo aus sie die Geschicke der Menschen und Götter lenken. – Diesem Umfeld gerecht wurden die perkussiven Klänge, die Michael Kiedaisch – fast schon cineastisch – mit großer Trommel, Hölzern und Laufen auf Kieselsteinen in einem metallenen Wäschezuber erzeugte.
„Eine Musik, die am besten funktioniert, wenn man sie live hört,“ empfahl Besucherin Gaea Schoeters, eine belgische Autorin („Trophäe“), die extra angereist war; es ist einer Aussage, der man ohne Einschränkung genau so zustimmen konnte. „Nur schade, dass man diese Stücke nur einmal hört im Leben.“ Sie fand die Aufführung die ganze Zeit spannend. „Spannend wie ein Kriminalroman,“ kommentierte auch Patricia Tafel; sie war begeistert, dass man dieses Gedicht so vertonen konnte. Sehr ansprechend war für Peter Christ die Zusammenführung der verschiedenen Geräusche in Verbindung mit den geschilderten Momenten des Lebens. Berührt verließen die Besucherinnen und Besucher die Orangerie nach etwas mehr als einer Stunde. (rw)
Mike Svoboda kann man auf dem Festival nochmals erleben am Freitag, 16.5. im Rokokotheater bei der Nachtmusik-Veranstaltung „Lieben Sie Wagner?“ – Eine Collage für und gegen und von Richard Wagner.
Wichtiger Hinweis! Werke wie Svobodas „Bücher der Zeiten“ sind ungewöhnlich und anspruchsvoll. Da sie auch ein großartiges Erlebnis sein können, macht es Sinn, sich darüber vielleicht sogar im Vorfeld gezielt zu informieren. Die Kunstschaffenden und die für die Organisation Verantwortlichen hatten vor diesem Konzert ein moderiertes Künstlergespräch „Mit dem Star an der Bar“ im Kurfürstenstübchen anberaumt. Diese Variante können Interessierte auch für viele andere Aufführungen nutzen.
Es besteht jedoch zudem die Möglichkeit, Details wie Werkbeschreibungen, Inhalte, Künstlerbiografien zu einzelnen Aufführungen zu erfahren. Was sonst im Programm ausgedruckt steht und erst zur Aufführung verteilt wird, kann man jetzt schon vorab im Internet nachlesen und als .pdf-Datei downloaden oder ausdrucken, denn hierfür wurde eine Website eigens für die Festspiele eingerichtet, die auch über QR-Code aufrufbar ist:
www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/schwetzinger-festspiele/artikel-programmhefte-download-2025-100.html