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Mit der "Stuttgart" nach New York

Eine zeitgenössische Ansichtskarte zeigt den Passagierdampfer „Stuttgart“ des in Bremen ansässigen Norddeutschen Lloyd vor der Abfahrt...
Passagierdampfer „Stuttgart“. Ungelaufene Ansichtskarte
Passagierdampfer „Stuttgart“. Ungelaufene AnsichtskarteFoto: Alfred Hottenträger

Eine zeitgenössische Ansichtskarte zeigt den Passagierdampfer „Stuttgart“ des in Bremen ansässigen Norddeutschen Lloyd vor der Abfahrt in einem dem Betrachter unbekannten Hafen, möglicherweise der besagten Hansestadt. Scharen von Menschen drängen zu der Gangway, um auf den erst einige Monate zuvor in Dienst gestellten Dampfer zu gelangen, der mit seinen drei Passagierklassen 1100 Reisenden Platz bot. So mag es auch gewesen sein, als in Bremen der erst 15-jährige aus Hohengehren gebürtige Hermann Schindele am 25. September 1924 an Bord ging, um nach Nordamerika auszuwandern. Laut Passagierliste maß Schindele 5 Feet 8 Inches (1,73 Meter), hatte blonde Haare und blaue Augen und wurde als „farm laborer“ bezeichnet. Er war um die Mittagszeit des 14. November 1908 als jüngstes Kind des Bauernehepaars Jacob und Karoline Schindele zur Welt gekommen. Am Abend desselben Tages war der Säugling in einer „Jähtaufe im Haus“ notgetauft worden, weil für ihn offenbar Lebensgefahr bestand. Seine Mutter, die in Hohengehren geborene Karoline Stumm, hatte 19-jährig am 18. April 1881 den neun Jahre älteren Bauern geheiratet und im Zeitraum von 27 Jahren 16 Kinder zur Welt gebracht. Ein Blick in die Kirchenbücher zeigt am Beispiel dieser Familie die damals erschreckend hohe Kindersterblichkeit: Neun Kinder waren bald nach der Geburt im ersten Lebensjahr verstorben. Im Jahr 1889 fanden in Hohengehren 21 Beerdigungen statt, in elf Fällen wurden Säuglinge bzw. Kleinkinder zur letzten Ruhe gebettet. Um zwei der Säuglinge trauerte die Familie Schindele, die beiden Mädchen waren im Abstand von wenigen Monaten verstorben.

Von den sieben verbliebenen Kindern des Ehepaars wanderten nachweislich vier nach Nordamerika aus, lediglich zwei Töchter und ein Sohn blieben auf dem Schurwald. Zunächst wagte der älteste Sohn Friedrich, am 28. Dezember 1881 geboren, den Aufbruch in eine neue Welt jenseits des Atlantiks, ihm folgten Jahre später seine Geschwister Pauline und August sowie eben Hermann. Friedrich Schindeles erste Ehe, geschlossen 1905 in Cannstatt, wurde bald schon wieder geschieden, und Anfang August 1906 kehrte er von Bremen aus auf dem Schnelldampfer „Kaiser Wilhelm II.“ seiner schwäbischen Heimat den Rücken. Er heiratete, möglicherweise in der neuen Heimat, die aus Freudenstadt gebürtige Rosa Weickert, Tochter eines dortigen Tuchfabrikanten und Stadtrats, und wurde am 20. Juni 1911 erstmals Vater, als die Tochter Mildred auf die Welt kam. Als Bäcker wohnte er im Bundesstaat Pennsylvania, zunächst in Coatesville und dann in Philadelphia. Schindeles Leben endete dort Mitte Oktober 1918 infolge Influenza und Lungenentzündung, vielleicht war die damals grassierende „Spanische Grippe“ die Todesursache, der vor allem 20- bis 40-jährige Menschen erlagen. Seine Witwe ging in der Folge erneut eine Ehe ein. Friedrichs Schwester Pauline, zur Welt gekommen am 21. Oktober 1894, bestieg im Sommer 1912 in Bremen den Salondampfer „George Washington“. Das Schiff hatte regu

lär eine Besatzung von fast 600 Mann und konnte über 2800 Passagiere aufnehmen: 485 in der Ersten, 426 in der Zweiten und 472 in der Dritten Klasse sowie 1449 im Zwischendeck. Die Route führte über Southampton und Cherbourg nach New York und dauerte acht Tage. In der Passagierliste wurde die junge Frau als Dienstmädchen („maid“) geführt. Das Schiff erreichte am 6. August New York, von dort wollte Pauline Schindele weiter zu ihrem Bruder nach Philadelphia. Sie heiratete dort am 20. Oktober 1917 den Metzger Josef Dreher und starb am 4. Januar 1957 infolge einer Hepatitiserkrankung.

August Schindele war das siebte Kind der Hohengehrener Bauersleute. Am 15. Juli 1891 geboren, verließ der Zigarrenmacher noch vor Ausbruch des Weltkriegs am 29. April 1914 in Hamburg an Bord des Dampfschiffes „Rugia“ seine Heimat. Am 1. Mai begann die „Rugia“ von dem Zwischenstopp Emden aus erstmals eine Seereise mit 700 Auswandernden. Am 15. Mai erreichte Schindele sein Ziel Philadelphia, wo ja bereits zwei seiner Geschwister lebten, und wurde wie sein älterer Bruder Bäcker. Er stellte 1921 einen Antrag auf Einbürgerung, beantragte im folgenden Jahr einen Reisepass und gab an, seine Eltern in Deutschland besuchen zu wollen. Die Reise sollte am 23. Februar 1922 von New York aus mit dem HAPAG-Passagierdampfer „Württemberg“ starten. Die Angabe, die Eltern in der alten Heimat zu besuchen, war jedoch nicht ganz zutreffend, denn der Vater war schon Mitte Oktober 1919 im Alter von 66 Jahren den Folgen eines Schlaganfalls erlegen. Schindele starb im Mai 1958 in Camden im Bundesstaat New Jersey und fand auf dem dortigen Friedhof seine letzte Ruhe.

Wie erging es Hermann Schindele, der ja auch seine Zukunft in den USA gesehen hatte? Die „Stuttgart“ legte am 5. Oktober 1924 im Hafen von New York an, von dort aus reiste der Heranwachsende weiter nach Philadelphia, ergriff wie seine beiden Brüder den Bäckerberuf und blieb ehe- und kinderlos. Im März 1940 erfolgte seine Einbürgerung, und genau zwei Jahre später wurde er im Zweiten Weltkrieg Soldat in der US-Armee. Sein Leben endete tragisch: Am 9. August 1969 wurde gemeldet, dass Schindele sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen hatte.

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Ausgabe 49/2024
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