NUSSBAUM+
Marion Tauschwitz über den Künstler

Museum im Alten Rathaus: Lesung zu Pierre Theunissen

Im Museum im Alten Rathaus entführte Marion Tauschwitz bei einer Lesung in das Leben des Künstlers Pierre Theunissen.
Zwei Frauen an einem roten Tisch.
(v.l.) Kulturreferentin Jasmin Hettinger und Autorin Marion Tauschwitz.Foto: du

Im Museum im Alten Rathaus Neckargemünd wurde es still, als Marion Tauschwitz zu lesen begann.

Im Rahmenprogramm der Ausstellung „Invasive Art – im Fluss der Zeit“ der drei Künstlerinnen Sabine Friebe-Minden, Sabine Schreier und Angelika Wild-Wagner, deren Arbeiten an den Wänden des Ausstellungsraums hingen, entführte die Heidelberger Autorin ihr Publikum in das Leben eines außergewöhnlichen Künstlers: Pierre Theunissen (1931–2021).

Kunst und Biografie

Begrüßt wurde sie von Kulturreferentin Jasmin Hettinger, die an Tauschwitz’ eindrucksvolle Biografie über die Heidelberger Lyrikerin Hilde Domin erinnerte – ein Werk, das der Schriftstellerin weit über die Region hinaus Anerkennung eingebracht hat. Auch an diesem Abend zeigte sich ihr besonderes Talent, biografische Stoffe mit Empathie, Tiefe und erzählerischer Klarheit zu verbinden.

Eindringender zwischen zwei Welten

Schon zu Beginn griff Marion Tauschwitz den Titel der Ausstellung auf. Auch Pierre Theunissen, so sagte sie, sei ein Eindringender gewesen – „ein Mann vom Niederrhein, der in ein anderes Land eindrang, in Frankreich, und dort heimisch wurde“. Nur mit dem Begriff „Künstler“ konnte er sich nie anfreunden. Er verstand sich als „Créateur“, als Schöpfer, der der Zerstörung der Welt etwas entgegensetzen wollte. Diese Zerstörung hatte er selbst als Dreizehnjähriger erlebt, als 1944 die Bomben auf Kleve fielen. Tauschwitz las in eindringlichen Bildern: „Unweit seines Elternhauses kauerte er im Gras, als die Leitbomber aus dem lichten Himmel stießen und ihre gefürchteten ‚Christbäume‘ setzten – glitzernde, zielmarkierende Leuchtbomben, die dem nachfolgenden Geschwader die Angriffspunkte signalisierten.“

Geprägt vom Krieg und eigenem Willen

Diese Szene, so erklärte sie, habe sich unauslöschlich in Theunissens Bewusstsein eingebrannt, seinen Glauben an Gott und die Menschheit zerstört und seine Kunst zeitlebens geprägt. Früh wusste er, dass er Bildhauer werden wollte – doch der Vater versuchte es zu verhindern, zwang ihn zu handwerklichen Ausbildungen als Holzschnitzer und Schreiner. Vielleicht legte gerade diese handwerkliche Strenge den Grundstein für seine spätere Meisterschaft im Umgang mit schwierigen Materialien.

Annäherung an sperrigen Menschen

Marion Tauschwitz schilderte ihre erste Begegnung mit Theunissen als zähes, vorsichtiges Annähern: ein hochsensibler, zweifelnder, suchender Mensch, der sich zugleich schroff und abweisend geben konnte. Erst nach stundenlangem Gespräch war das Eis gebrochen. „Quelle ouverture“, sagten sie am Ende zueinander – welch eine Öffnung. Als der ursprünglich vorgesehene Biograf plötzlich verstarb, übertrug Theunissen ihr selbst das Vertrauen: „Ich kann mir nur vorstellen, dass du meine Biografie schreibst.“

Entdeckung des Palmenholzes

Es folgte eine intensive Arbeitsphase mit Tonbandgesprächen und der Übergabe seiner Tagebücher: Dokumente eines Lebens voller Brüche, Eigensinn und unerschütterlicher Wahrhaftigkeit.
Ein weiterer Abschnitt der Lesung führte in die Provence, wo Theunissen 1958 seine künstlerische Heimat fand. Der Fotograf Willy Maywald, für dessen Villa er Handwerksarbeiten verrichtete, hatte ihn dorthin gebracht. „Ich will arbeiten, routiniert sein, diszipliniert sein, bloß nicht scheitern“, zitierte Tauschwitz ihren Protagonisten. Geld für teure Materialien hatte er nicht. In einer Müllhalde stieß er auf ein Stück Palmenholz – schwer zu bearbeiten, widerspenstig, doch genau darin fand er seine künstlerische Herausforderung. „Er hat das Material geadelt“, sagte Tauschwitz. Aus dem Palmenholz, das zuvor niemand als Werkstoff ernst genommen hatte, schuf Theunissen seine ersten Skulpturen.

Leben für die Kunst

Um zu überleben, arbeitete er als Anstreicher, Maurer oder Kläranlagenreiniger: tagsüber für den Lebensunterhalt, nachts für die Kunst. Auch für Max Ernst, den großen Maler und Bildhauer, war er als Schreiner tätig. Ernst, der ihn seit seiner Jugend faszinierte, erkannte seine Begabung, kaufte ihm Werke ab und versuchte, ihn mit anderen Künstlern bekannt zu machen. Doch Theunissen lehnte Protektion entschieden ab. „Er segelte nie im Windschatten einer Mode“, so Tauschwitz, „er bestimmte stets seinen eigenen Kurs.“ Freundschaften verbanden ihn dennoch mit Künstlern wie Joseph Beuys, Yves Klein und Vertretern der Pariser Avantgarde.

Späte Würdigung

Trotz dieser Kontakte blieb der große Durchbruch aus. Die mangelnde Resonanz auf sein Werk setzte ihm psychisch zu. In einer Phase tiefster Verbitterung verfügte er, dass nach seinem Tod nichts erhalten bleiben solle – „nichts, aber auch gar nichts dieser ignoranten Welt“. Selbst seine Frau, die Malerin Jeanine Einaudi, stimmte zu. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Marion Tauschwitz zitierte in diesem Zusammenhang Robert Gernhardts Gedicht „Alles über den Künstler“ – Zeilen, die Theunissens Lebensweg spiegeln:
„Der Künstler fällt in freiem Fall./Als Stein ins Nichts? Als Stern ins All?“ Im Fall Pierre Theunissens, sagte sie zum Schluss, sei es eindeutig „als Stern ins All“ gewesen. Denn ein Kunstsammler erkannte den Wert seines Schaffens und erwarb das gesamte Werk von 1950 bis 2014. So fand das Lebenswerk des „Créateurs“ seine späte Würdigung – und mit der Eröffnung des Museums Espace Pierre Theunissen im Hinterland der Côte d’Azur im Sommer 2016 wurde der eigenwillige Bildhauer endgültig unsterblich. (du)

Erscheinung
Neckarbote
NUSSBAUM+
Ausgabe 44/2025
von Redaktion NUSSBAUMRedaktion NUSSBAUM
29.10.2025
Orte
Neckargemünd
Kategorien
Kultur
Lesungen
Literatur
Museen
Meine Heimat
Entdecken
Themen
Kiosk
Mein Konto