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Gemeinderat

Nachlese Bürgermeisterwahl

Gaby Strittmatter-Seitz für das Aktionsbündnis für Demokratie und Menschenrechte Im Zuge einer kleinen Nachbetrachtung der BM-Wahl habe ich die Kandidaten...

Gaby Strittmatter-Seitz für das Aktionsbündnis für Demokratie und Menschenrechte

Im Zuge einer kleinen Nachbetrachtung der BM-Wahl habe ich die Kandidaten um ein Interview gebeten. Drei erklärten sich dazu bereit, leider ist die neu gewählte Bürgermeisterin nicht darunter; gerne hätten wir etwas zu ihren Ansätzen und der Transition vom männlichen zum weiblichen Stil erfahren, aber sie ignorierte meine Anfrage.

Für Eberhard Keller, den amtierenden Bürgermeister, geht die Zeit im Rathaus zu Ende. Wir wollen ihn aber nicht gehen lassen ohne ein bisschen hinter die Kulissen zu schauen. Was bewegt ihn? Wie geht es einem überhaupt auf diesem Stuhl? Ich stelle ihm eine Menge Fragen, die er bereitwillig beantwortet.

Lieber Herr Keller, Bürgermeister zu sein, bedeutet u. U., für alles verantwortlich gemacht zu werden, auch für Dinge, auf die man keinen

Einfluss hat. Wie dick ist das Fell, das man für diesen Job braucht?

Für die Bürgerinnen und Bürger wird es tatsächlich immer schwieriger zu erkennen, wo die Zuständigkeiten für ihre einzelnen Anliegen verortet sind. Gleichzeitig wird Verantwortung von den übergeordneten Ebenen Bund und Land auf die Kommunen verlagert, die hier als Ausführungsorgan operieren müssen. Dadurch wird viel Unverständnis und auch Unmut auf die Kommunen und die Bürgermeister verlagert, besonders deutlich wurde dies in der Corona-Pandemie. Gleichzeitig können sich einzelne Kommunen auch nicht von allgemeinen Trends abkoppeln, z. B. bei der

Volatilität beim Personal und den knappen Ressourcen bei der Kinderbetreuung. Das muss man als Amtsperson tatsächlich aushalten können. Solange die Auseinandersetzung auf der inhaltlichen Ebene bleibt, ist dies auch machbar. Schwierig wird es, wenn die Probleme auf die persönliche Ebene gezogen werden.

Haben Sie jemals bereut, den Job angenommen zu haben?

Man muss sich vorher darüber im Klaren sein, welche Herausforderungen das Amt mit sich bringt. Bereut habe ich die Entscheidung nicht, allerdings hätte ich mir mehr private Freiräume schaffen sollen, um in manchen Situationen resilienter zu sein.

Worauf hat man wirklich Einfluss, wo gibt es eine Entscheidungshoheit?

Die theoretische Entscheidungshoheit wird in der Gemeindeordnung Baden-Württemberg definiert und war ursprünglich recht breit gedacht. Die

Einschränkungen ergeben sich aus den ergänzenden Gesetzgebungen. Insgesamt hat die Einführung des Neuen Kommunalen Haushaltsrechts mit neuen Regeln zur Bilanzierung und der Verpflichtung, die Abschreibungen von Investitionen zu berechnen und im Haushalt auszuweisen, zu erheblichen Einschränkungen der Handlungsspielräume geführt. Unter dieser Prämisse hat man direkten Einfluss auf die Standards, in der wir Aufgaben erbringen, in der Priorisierung der Aufgaben und darauf, welche Themen zusätzlich zu den Beschlüssen des Gemeinderats auf die

Agenda gesetzt werden und der Frage, welche freiwilligen Aufgaben sich die Kommune leistet. Innerhalb der Verwaltung bestimmt der Bürgermeister über alle Gegenstände der laufenden Verwaltung. Also immer noch ein breites Feld, das aber von Jahr zu Jahr kleiner wird.

Ihr persönliches Resümee? Haben Sie das Gefühl, etwas erreicht zu haben, das Bestand hat, wenn Sie das Rathaus jetzt verlassen? Kann ein Einzelner überhaupt etwas bewegen?

Die Haushaltskonsolidierung ist auf einem guten Weg, auch durch die Investitionen in die Infrastruktur. Das schafft langfristig Spielräume und stärkt die Unabhängigkeit der Kommune. Das Ende der Knappheit bei den Betreuungsplätzen ist absehbar und auch die Stadtgestaltungsmaßnahmen laufen wieder an. Die Stadtteile wurden weiter gestärkt, z. B. Bünzwangen mit demNeubau der Halle und der Überlassung der ehemaligen Verwaltungsstelle an die Dorfgemeinschaft. Die Freibadsanierung, Ebertrail, EberBowl, Ausbau der Schulsozialarbeit und viele weitere Dinge werden in die Zukunft fortwirken. Trotzdem ist ein Einzelner immer auf eine gute Mannschaft angewiesen. Hier gab es Friktionen, weil ich eine zu hohe Erwartungshaltung hatte.

Trotz aller Diskussionen um die Fluktuation muss aber betont werden, dass die Mehrzahl der Mitarbeitenden an Bord geblieben ist und etwas mit bewegen wollte. Und die Kündigungsgründe waren vielfältig; zu vielen Ehemaligen habe ich heute noch regelmäßigen Kontakt.

Manche Prozesse lassen sich nicht synchron kommunizieren. Besteht darin die größte Schwierigkeit, nämlich den Bürgern zu erklären, woran man arbeitet, ohne Details zu nennen?

Erklärungsbedürftigkeit ist allgemein ein Problem, da viele Begründungen, die länger als zwei Sätze sind, oft gar kein Gehör mehr finden. Bei der Komplexität vieler Vorgänge entsteht hier zwangsläufig ein Defizit. Gleichzeitig ist es wichtig, viele Projekte in der Schublade zu haben, um auf Förderprogramme reagieren zu können. Die werden oft sehr kurzfristig kommuniziert, so dass man hier ohne Vorbereitung gar nicht zum Zuge kommen kann. Bei diesen bevorrateten Projekten ist die Kommunikation oft besonders schwierig, da entweder falsche Erwartungen an den

Umsetzungshorizont geweckt werden, oder vieles von den vorausgehenden Diskussionen bereits wieder vergessen ist. Nehmen wir z. B. das Kinderhaus II: Der Standort wurde im Rahmen des ISEK mit Bürgerbeteiligung festgelegt, es gab dazu auch einen Aushang im Stadtlabor. Trotzdem waren bei der Realisierung viele überrascht.

Ein anderes Beispiel: Die vollständige Umstellung der Straßenbeleuchtung auf LED ruht nun seit mehr als zwei Jahren, weil wir auf den Förderbescheid für die 20%ige Förderung warten müssen, bis wir beginnen. Bei Projekten mit privaten Partnern wie z. B. bei der Konversion von NEVEON ist auf der anderen Seite Vertraulichkeit ein hohes Gut. Da fühlen sich dann viele vor vollendete Tatsachen gestellt und blenden

dabei aus, dass eine zu intensive öffentliche Diskussion Vorhaben auch verunmöglichen kann. Der Eindruck ist entweder, die Bürger wären nicht

mitgenommen worden oder andersrum: in der Stadt tut sich nichts. Beides ist bei Lichte betrachtet falsch, aber eben kaum vermittelbar. Am Ende müssen auch die notwendigen finanziellen Mittel bereit gestellt werden, was in Ebersbach auf Grund der limitierten Haushaltslage eher für längere Umsetzungszeiträume spricht.

Was hat Ihnen besondere Freude bereitet und was war eher unangenehm?

In meinem Büro hatte ich folgenden Spruch des indischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore aufgehängt:

„Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. /

Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. /

Ich handelte, und siehe, die Pflicht war Freude.“

Insgesamt ist die Tätigkeit sehr erfüllend und Horizont erweiternd. Auf der Meta-Ebene erzeugt dies tatsächlich so etwas wie Freude. Unangenehm sind dagegen die Widerstände und das Erkennen, zu komplex und langfristig unterwegs gewesen zu sein.

Um die Frage aber auch noch einfach zu beantworten: Viel Freude hat mir immer der Kontakt mit Kindern und Jugendlichen gemacht. Eher unangenehm war, immer wieder auf die beschränkten, v. a. finanziellen Ressourcen der Stadt hinweisen zu müssen.

Was hätten Sie gerne noch erreicht? Gibt es etwas, das Sie bedauern?

Das Projekt am Viehmarkt und den Hochwasserschutz hätte ich gerne noch weiter begleitet und auch manches Kleinere noch mit auf den Weg gebracht. Durch Einarbeitungszeit, Corona und die Überflutungskatastrophe vor einem Jahr blieben am Ende nur vier Jahre, also eine halbe Amtszeit, in der ich wirklich gestalten konnte. Tatsächlich hätte der Neustart nach Corona entschiedener ausfallen müssen. Ein Problem ist sicher auch, dass ich selber die Erfolge zu wenig gesehen und entsprechend zu wenig vermarktet habe.

Es hieß, oft habe mitten in der Nacht im Rathaus noch Licht gebrannt. Worauf muss man in dieser Position verzichten, wenn man sie ernst nimmt? Welche Eigenschaften muss man außer dem erwähnten Fell mitbringen?

Für die teilweise langen Entscheidungsprozesse und Umsetzungszeiträume ist eine gewisse Zähigkeit erforderlich, um zum Ziel zu kommen. Ohne diese wäre z. B. die Freibadsanierung mit der Bundesförderung nicht möglich gewesen. Auch muss oft an den Mehrheiten gearbeitet werden. Eine gewisse Flexibilität bei der Ausrichtung der Projekte ist deshalb ebenfalls notwendig, sonst misslingt die Einbindung der Kommunalpolitik. In meiner Amtszeit gab es eine Beschlussquote der Vorlagen durch den Gemeinderat von 98%. Das ist nicht selbstverständlich. Eine weitere

Voraussetzung dafür ist aber, dass man sich gut in die Materie einarbeitet und sich gut darin auskennt. Sonst gelingt es nicht, die unterschiedlichen Vorstellungen zu integrieren. Das führt eben auch zu langen Arbeitszeiten auch ohne die abendlichen Sitzungen. Gründliches Arbeiten ist nach meiner Ansicht eine grundlegende Voraussetzung für eine gute und zukunftsgewandte Kommunalentwicklung. Nichts

ist teurer und aufwändiger, als Nacharbeiten oder Nachlässigkeiten korrigieren zu müssen. Dazu ist es wichtig, verlässlich zu sein und nicht zu viel zu versprechen.

Ebersbach hat nicht mehr die Ressourcen, alles Wünschenswerte in der Kernstadt und den Stadtteilen umsetzen zu können.

Sie kommen aus Stuttgart. War es selbstverständlich, hierher zu ziehen, nachdem Sie BM wurden?

Das stand für mich nie in Frage. Es ist wichtig, vor Ort zu sein, um die notwendige Präsenz zeigen zu können und auch spontan zur Verfügung zu stehen, bei Feiern, aber bspw. auch bei den größeren Einsätzen der Feuerwehr. Auch kommt man viel besser mit den Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt, wenn man beim Einkaufen ansprechbar ist. Das war mir immer wichtig, allerdings habe ich mich auch darüber gewundert, dass davon nur wenig Gebrauch gemacht wurde, z. B. auf dem Wochenmarkt.

Acht Jahre Kleinstadt. Haben Sie das Landleben schätzen gelernt? Wie ist Ihr Eindruck von den Menschen und Institutionen in Ebersbach? Stimmung, Atmosphäre?

Die kurzen Wege in der Stadt, aber auch ins Grüne, sind ein großer Vorteil, zumal es alles für den täglichen Bedarf in Ebersbach gibt, ebenso eine abwechslungsreiche Landschaft zum Wandern und Fahrradfahren. Auch aus den Stadtteilen sind die Wege eher kurz. Innerhalb Stuttgarts ist man oft länger unterwegs als z. B. von Ebersbach nach Göppingen.

Gesamtgesellschaftlich verbreitet sich in ganz Deutschland oder sogar in ganz Europa eine eher negative Grundstimmung, die sehr diffus und dadurch in vielen Teilen auch nur schwer nachvollziehbar ist. Ebersbach bildet hier keine Ausnahme. Trotzdem gibt es hier viel Unterstützung, Solidarität, Herzlichkeit und Gemeinschaft, was das Leben in Ebersbach sehr lebenswert macht.

Was werden Sie vermissen, wenn Sie Ihren Schreibtisch verlassen?

Viele der Mitarbeitenden, die sich jeden Tag engagiert und mit Herzblut für die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger einsetzen.

Werden Sie uns erhalten bleiben, ab und zu hereinschauen, ein Schwätzle halten oder ziehen Sie zurück nach Stuttgart?

Die nächsten Jahre werde ich sicher etwas Abstand halten. Der Wohnort wird dann auch von einer neuen beruflichen Aufgabe bestimmt sein. Aktuell gilt es, die privaten Ausgaben zu reduzieren. Deswegen werde ich die Wohnung in Ebersbach zeitnah aufgeben.

Der allgemeine Umgangston wird rauer, in den sozialen Medien, aber auch vor Ort. Braucht man heutzutage Mut, um sich für ein öffentliches Amt zu bewerben?

Mut hat man dafür schon immer gebraucht, da Anforderungen und Anspruchshaltungen volatil sind und die Rolle eines Amtes so facettenreich ist, dass keine Persönlichkeit alle dieser Teile gleich gut abdecken kann. Aber der rauere Umgangston schreckt zunehmend gute und qualifizierte

Kandidatinnen und Kandidaten ab, die sich den öffentlichen Shitstorms und alternativen Fakten nicht aussetzen wollen. Das führt an vielen Stellen bereits merklich zu einem Qualitätsverlust, was andererseits wieder Grund für vermehrte Kritik ist. Für die Glaubwürdigkeit und Legitimität des demokratischen Systems ist es sehr wichtig, dass diese Spirale unterbrochen wird. Leider bin ich persönlich aber skeptisch, dass dies gelingen wird.

Was halten Sie von dem versprochenen Geldsegen der Politik? Wird er die kommunalen Kassen wirklich entlasten?

Das denke ich weniger, soweit es nicht um zusätzliche Aufgaben geht. Es war absehbar, dass es vom Bund in der abgeschwächten Wirtschaftslage kein Konjunkturpaket wie in den vergleichbaren Jahren geben wird. Der Fokus der Ausgaben liegt nun auf dem Verteidigungsbereich, die Milliarden für die Infrastruktur werden mutmaßlich vorrangig für die Nachschubwege eingesetzt werden. Das sind

aber in der Regel keine kommunalen Straßen oder Schienenwege, so dass es hier keine Entlastung geben wird. Sportstätten, der Betreuungs- und Schulbereich, aber auch Einrichtungen wie Bibliothek oder Musikschule bleiben so auch in Zukunft strukturell unterfinanziert. Es wird eine große Herausforderung sein, das Bestehende zu erhalten. Ein weiterer Ausbau wird kaum möglich sein.

Welches sind Ihrer Meinung nach die gesellschaftlichen (sozialen, nicht politischen) Hauptanforderungen der heutigen Zeit? Weltweit, aber auch kommunal, also auch in Ebersbach? Wie kann man ihnen begegnen?

Weltweit die Sicherung der Lebensgrundlagen, auch bedingt durch den Klimawandel und eine gerechtere Verteilung des Vermögens. Hier erleben wir aktuell leider eine gegenteilige Entwicklung. Die Spreizung der Einkommen führt zu mehr Unzufriedenheit. Insbesondere in den Ballungsräumen ist es problematisch, dass sich schon die Mittelschicht kaum mehr angemessenen Wohnraum leisten kann.

Andererseits stockt der Neubau von Wohnungen; auch in Ebersbach ist es in fünf Jahren nicht gelungen, einen Investor für ein großes Wohnbauprojekt zu finden. Eine weitere Herausforderung ist, dass die gemeinschaftsstiftenden Einrichtungen und Organisationen wie Parteien, Kirchen, Vereine an Bedeutung verlieren. Dadurch schwinden gemeinsame Nenner, geht ein Kanon verloren, der über Jahrhunderte Orientierung bot und Basis für die Verständigung und das Handeln der Gesellschaft war. Verständigungsprozesse und die Suche nach (politischen) Lösungen wird dadurch komplexer, die Aushandlungsprozesse mühsamer. Da macht sie für viele nicht mehr verständlich und scheinbar intransparent. Da ist es einfacher, nach einem starken Mann zu rufen, die eigene Position als das Maß zu setzen und Positionen nicht mehr zu hinterfragen. Aushandlungsprozesse sind mühsam oder anders gesagt: Demokratie und der Erhalt der Freiheit sind keine Selbstläufer, sondern erfordern harte Arbeit. Leider sind immer weniger dazu bereit, diese zu leisten. Dabei ist es gerade für Städte mit einer heterogenen Bevölkerung wie in Ebersbach

besonders wichtig, diese Arbeit zu leisten, damit alle Mitbürger mitgenommen werden können. Auch Menschen, die vor vielen Jahrzehnten aus dem nahen Umfeld nach Ebersbach gezogen sind und sich auch nach 40 Jahren hier noch nicht zu Hause fühlen, ganz ohne Migrationshintergrund.

Was möchten Sie den Ebersbachern mitgeben?

Mit ihrer Stadt und den vorhandenen Angeboten zufriedener zu sein. Ebersbach ist in vielen Bereichen überdurchschnittlich, das hätte mehr Wertschätzung verdient.

Herzlichen Dank für das Gespräch und alles Gute für Ihre Zukunft!

Erscheinung
Ebersbacher Stadtblatt
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Ausgabe 28/2025
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