Peter Kalb erzählt über Zeit als Zeugenbetreuer während Auschwitz-Prozess

„Ich habe nie bedauert, dass ich es gemacht habe“ Peter Kalb kommt am vergangenen Sonntag aus Bensheim nach Hemsbach. Es ist eine Matinee in der Brennnessel,...
Peter Kalb war Zeugenbetreuer des Auschwitz-Prozesses, der von 1963 bis 1965 in Frankfurt stattfand.
Peter Kalb war Zeugenbetreuer des Auschwitz-Prozesses, der von 1963 bis 1965 in Frankfurt stattfand.Foto: cs

„Ich habe nie bedauert, dass ich es gemacht habe“

Peter Kalb kommt am vergangenen Sonntag aus Bensheim nach Hemsbach. Es ist eine Matinee in der Brennnessel, zu der er anreist. Es geht um das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Und um die schwere Aufarbeitung, die Menschen Unmenschliches abverlangte. Menschen, die er während der Zeit des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt begleitete.

Auschwitz. Ein Ort des Grauens. Der Vernichtung. Auschwitz. Ein Ort, von dem in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren niemand mehr etwas wissen will. Nicht von dem, was dort geschah. Nicht von der Brutalität und dem Gas und dem Tod. Vergessen will man. Das ist die Stimmung, in der 1963 der Auschwitz-Prozess in Frankfurt beginnt. Peter Kalb hat ihn begleitet. Hat Zeugen begleitet. Juden. Ehemalige Insassen des Vernichtungslagers. Damals ist er Student. Er holt Zeugen in seiner gelben Ente von Flughafen und Bahnhof ab, begleitet sie zum Gericht, wartet mit ihnen vor dem Saal, hört von der Galerie aus ihre Aussagen. Er ist einer der jungen Generation, einer von denen, die sich interessieren. In einem TV-Interview nach dem Urteil sagt er: „Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass Auschwitz und alles, was damit zusammenhängt, je wieder vollständig aus meinem Bewusstsein getilgt werden könnte.“ Heute ist Peter Kalb über 80. Seine Worte von damals, sie haben sich bewahrheitet.

„Es holt viel wieder hoch“

Hemsbach, Kino Brennnessel. Der Tisch des Foyers. Es ist Mittagszeit. Peter Kalb hat seine Ruhe augenscheinlich wiedergefunden. Eine Stunde zuvor ist das anders. Das Kino hat den Film „Im Labyrinth des Schweigens“ gezeigt. Er erzählt die Vorgeschichte zum Frankfurter Prozess. „Es holt viel wieder hoch“, sagt er auf der Bühne im sich anschließenden Gespräch mit Brennnessel-Mitarbeiter Frank Krause. Der Film ist Kunst, sagt Kalb später am Tisch im Foyer. Er kann Kunst als Fiktion einordnen. Die Aussagen der Zeugen – sie waren das eben nicht. Fiktion. Nicht alle, sagt Kalb, wollten überhaupt mit ihm sprechen. Wie viele er betreut hat? „Ich habe mal die aufgeschrieben, an die ich mich ohne nachzuschlagen erinnere. Das waren 35 bis 38.“ Einer von ihnen ist Stanislaw Kaminski. Mit ihm erlebt er einen Moment, den Kalb immer wieder im Zusammensein mit Journalisten erzählt. Auch auf der Bühne in der Brennnessel. Weil er eindrücklich ist. Es ist das Zusammentreffen mit einer älteren Frau in einem Aufzug. Kalb kennt sie nicht, Kaminski erkennt sie sofort. „Das war Frau Höß“, erklärt er seinem Betreuer später. Hedwig Höß. Ehefrau des 1947 hingerichteten Lagerkommandanten Rudolf Höß. Opfer und Täter – in Frankfurt ein Treffen auf engem Raum.

Kalb erzählt ohne zu viel Emotion. Obwohl er die Geschichten der Zeugen kennt, das Grauen im Detail gehört hat. „Das Erschütterndste für mich war, dass die Zeugen, nachdem sie ihre Aussagen gemacht haben, in einem nervlichen Zustand waren, der unbeschreiblich ist“, sagt der Student Kalb im Dokumentationsausschnitt des TV-Interviews, der sich dem Film anschließt. Waren die Urteile angesichts der Schilderungen zu mild? Ja, sagt er damals. Aber sie waren im Gegensatz zu den Nürnberger Prozessen nach deutscher Gerichtsbarkeit gefällt. Das war gut und richtig, sagt Kalb jetzt in der Brennnessel. Es ist kein Widerspruch. Lediglich eine bittere Erklärung. Was ihn auch erschüttert, ist die ausbleibende Reue der Täter. „Dass da nichts im Kopf passiert“, versteht er die Lügen, um die eigene Haut zu retten; aber nicht die fehlende Reflexion des eigenen Handelns. Noch immer verwundert es ihn. Noch immer, nach all der Zeit.

Kein Bedauern

Zeugenbetreuer. Das Wort mag Peter Kalb nicht. „Das klingt ein bisschen nach Vormund, das ist es überhaupt nicht“, winkt er ab. Er ist damals vielmehr Begleiter. Kalb rückt über seinen Vater und das Deutsche Rote Kreuz in die Position. Er begleitet die Menschen teils bis weit über das Prozessende 1965 hinaus. Und sie begleiten ihn. Weil sich Freundschaften entwickeln. Eine verbindet ihn mit Stanislaw Kamiński. Selbst dessen Nachkommen klopfen bei Kalb später an die Wohnungstür. „Ich habe nie bedauert, dass ich es gemacht habe“, sagt der heute in Bensheim wohnende Peter Kalb über die Zeit. Ist sie Belastung? Ist sie Bereicherung? „Es ist beides“, sagt er. Und dann ist da dieser Blick, der ihn scheinbar weit weg führt, weg von dem Moment, hinein in ein wohl nur im Außen existierendes Schweigen. „Wenn ich weiß, dass eine Veranstaltung kommt, dann beschäftigt mich das schon einige Tage“, sagt er dann. Die Zeit dreht sich zurück. Zurück zu dem TV-Interview, gezeigt gut eine Stunde zuvor. Zu den Worten des jungen Peter Kalb: „Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass Auschwitz und alles, was damit zusammenhängt, je wieder vollständig aus meinem Bewusstsein getilgt werden könnte.“ Wurde es nicht. Wird es nicht. (cs)

Kalb (3. v. l.) in einer TV-Dokumentation neben Henry Ormond, Vertreter der Nebenkläger, und Hermann Langbein, der im Prozess als Zeuge auftrat.
Kalb (3. v. l.) in einer TV-Dokumentation neben Henry Ormond, Vertreter der Nebenkläger, und Hermann Langbein, der im Prozess als Zeuge auftrat.
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