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Projekt Jahrgang 1943

Projekt Jahrgang 1943 Drei Frauen aus Rutesheim – alle Jahrgang 1943 – mit völlig unterschiedlichen Biografien – alle Mitglieder unseres...
Hedwig Duppel in jungen Jahren
Hedwig Duppel in jungen JahrenFoto: Else Kaltenecker

Projekt Jahrgang 1943

Drei Frauen aus Rutesheim – alle Jahrgang 1943 – mit völlig unterschiedlichen Biografien – alle Mitglieder unseres Arbeitskreises Geschichte vor Ort – haben ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Sie wurden in den letzten Kriegsjahren geboren und zunächst von ihren Müttern großgezogen. Die Väter waren im Krieg verwundet, gefallen und vermisst.

Diese Mütter haben Unglaubliches geleistet, waren sie doch eigentlich meist nur vorgesehen und erzogen als treusorgende Ehefrauen, Mütter und Gastgeberinnen.

Aber seit Kriegsbeginn spielten sie eine immer größere Rolle in der veränderten Welt. Sie mussten die Männer, die im Krieg waren, in allen Dingen im Alltag ersetzen, in Fabriken und in der Landwirtschaft, auch in der Herstellung von Bomben und anderem Kriegsgerät. Nebenbei wurde die übliche Familienarbeit verrichtet.

Als Zeitzeugen wollen sie von dieser schweren Zeit erzählen – von ihren Müttern, vom Aufwachsen in der Nachkriegszeit, im Wirtschaftswunder und vom Bleiben oder Ankommen in Rutesheim.

1. Hedwig Duppel, 1921 - 1986, Mutter von Else Kaltenecker

Meine Mutter wurde am 1. November 1921 als Hedwig Binder in einer alteingesessenen Rutesheimer Familie geboren. Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester wuchs sie in einer sehr streng pietistischen Familie auf. Jeden Morgen las ihr Vater aus der Bibel vor, danach wurde gefrühstückt. Sonntags ging man in die Kirche und nachmittags in die Stunde. Sie hatte eine schöne Kindheit.

1933 kamen die Nationalsozialisten mit Hitler an die Macht. In der christlichen Familie meiner Mutter war das ein Schock. Es war niemand für diese Partei.

Hedwig ging sehr gerne in die Schule, bis eines Tages ihr damaliger Lehrer seine Schülerinnen aufforderte, den Jungmädeln beizutreten. Sie und ihre Freundin fanden das blöd, so gingen sie einfach nicht hin. Ihr Lehrer war darüber sehr erbost, schimpfte mit ihnen und teilte ihnen mit, sie in Zukunft nicht mehr zu beachten. Das machte er auch, aber da sie seine besten Schülerinnen waren, fehlten ihre Beiträge im Unterricht sehr, so dass er sie nach ungefähr einem Monat einfach wieder teilnehmen ließ.

Das beeindruckte mich sehr, sowie ihre Erzählung, dass ihr Vater am Bahnhof Leonberg den armen, ausgemergelten Zwangsarbeitern immer wieder ein Stück Brot zusteckte, denn sie taten ihm so leid, doch das war zu dieser Zeit sehr gefährlich.

So wuchs sie sehr behütet auf und musste zuhause auf dem Bauernhof mitarbeiten, wie das so üblich war. Einen Beruf zu lernen oder zu studieren, war zu dieser Zeit in dieser Gesellschaft und vor allem für Frauen keine Option. Mädchen heirateten, bekamen dann Kinder und hatten für Mann und Kinder dazusein.

Irgendwann verliebte sie sich in einen jungen Mann namens Gustav. Sie wollten eigentlich heiraten, aber ihre Eltern waren nicht sehr begeistert.

Inzwischen wurde dieser junge Mann zum Militär eingezogen. Zuerst war er in Karlsruhe und schickte von dort viele Briefe an meine Mutter, in denen er ihr bekundete, wie sehr er sie liebe. Nach dem Abschied von ihm war meine Mutter schwanger und es gab keine Möglichkeit, noch schnell zu heiraten. Was für eine Schande für die beiden und vor allem für ihre Familien. So kam mein Bruder am 14. März 1940 unehelich zur Welt. In dieser Zeit hatte mein Vater an seine geliebte Hedwig sehr viele Liebesbriefe geschrieben, zuerst aus Karlsruhe und danach aus Frankreich. Auch an seine Eltern und Großeltern hat er Briefe geschrieben und sie um Verzeihung gebeten für die Schande, die er über die Familie gebracht hatte. Dann hatten sie endlich eine Kriegstrauung und zogen in eine kleine Wohnung im Haus der Eltern meines Vaters in der Kirchstraße ein.

1941 wurde Gustav dann an die Ostfront versetzt, wo er eine Verletzung erlitt und nach Kolberg ins Lazarett eingeliefert wurde. Dort konnte meine Mutter ihn auch besuchen. Auch von Kolberg schrieb er wieder Briefe an seine Eltern, seine Großeltern und natürlich an seine geliebte Hedwig. Zuvor hatte er auch Briefe von seiner Verwundung an sie von der Front im Osten geschrieben, aber die kamen nicht zuhause an. Anschließend musste er wieder zurück an die Ostfront und die Briefe waren nun spärlicher. 1942 hatte er nochmals Heimaturlaub und danach, am 9. Januar 1943, erblickte ich als Mädchen die Welt. Meine Eltern haben sich sehr über mich gefreut, leider konnte mich mein Vater sehr selten sehen, denn er war ja Soldat und es war Krieg. Weihnachten 1943 war er noch einmal bei seiner Familie im Urlaub, er hat sich sehr über sein kleines Mädchen Elschen gefreut. Danach musste er wieder an die Ostfront.

Am 18. März 1944 kam dann die schreckliche Mitteilung, dass mein Vater am 17. März

1944 in Weißrussland an den Folgen eines Kopfschusses verstorben ist und in Luniniec/Pripjet auf dem Ehrenfriedhof beigesetzt wurde. Gleichzeitig mit der Todesnachricht kam ein Brief an seinen kleinen Sohn Manfred zum 4. Geburtstag mit der Hoffnung auf baldiges Wiedersehen.

Ich kann mir heute gar nicht vorstellen, wie meine Mutter mit ihren 22 Jahren und zwei kleinen Kindern das alles verkraftet hat. Doch sie musste funktionieren, musste den Mann ersetzen und die Kinder erziehen. Sie beschloss, wieder zurück zu ihren Eltern zu ziehen, in eine kleine Wohnung im Dachgeschoss in der Renninger Straße.

1946 kamen die Vertriebenen hier an und wurden auf die Häuser verteilt. So musste meine Mutter mit ihren zwei nun sechs und drei Jahre alten Kindern in ihr früheres Kinderzimmer in der Wohnung ihrer Eltern ziehen.

Wir wurden immer beobachtet, ob wir auch gut erzogen wurden, obwohl meine Mutter und die Großeltern alles dafür taten, dass wir gute Menschen wurden. Ich kann mich bis heute daran erinnern, dass wenn wir irgendwelche Streiche machten, die eigentlich die meisten Kinder machten, die Leute sofort sagten: „Da sieht man eben, dass kein Vater da ist“. Als ob diese Kriegswitwen und ihre Kinder schuld gewesen wären an diesem entsetzlichen Krieg und seinen Folgen für sie und ihre Kinder.

Wenn meine Mutter etwas Zeit hatte, was sehr selten der Fall war, hat sie immer gelesen, ein Zeitvertreib, den ich von ihr geerbt habe. Außerdem hat sie mit großer Freude im Kirchenchor mitgesungen. Sie hat auch da viele Ausflüge mitgemacht, es gab ja viele Frauen, die ihren Mann im Krieg verloren hatten.

Dann kam meine Schulzeit. Ich war eine gute Schülerin und wäre nach der 4. Klasse gerne in die Oberschule gegangen, aber unsere Lehrerin behandelte viele Kinder schlecht. Sie war sicher überfordert, denn wir waren fast 60 Kinder in der ersten Klasse. So ging meine Mutter zu ihrem früheren Lehrer, der inzwischen der Rektor der Schule war, und sagte ihm, dass ihre Tochter unbedingt auf die Oberschule wolle, was sie denn tun solle. Seine Antwort war: So ein Unsinn, die heiratet doch sowieso, und du als Witwe kannst dir das sowieso nicht leisten. Als sie mir das erzählte, hat mich das sehr wütend gemacht. Müsste der Staat nicht auch diesen Kindern helfen, die ihren Vater im „Dienst fürs Vaterland“ verloren hatten? Das hat mich für mein Leben sehr geprägt.

Zusammen mit meinem Bruder und seiner Familie, inzwischen gab es drei Enkel, hat sie dann in ihrem früheren Elternhaus gewohnt. Mein Bruder übernahm dann die Landwirtschaft und sie arbeitete mit.

Da ihre Witwenrente zum Leben nicht reichte, arbeitete sie später im Krankenhaus Leonberg, bis sie sehr krank wurde und kurz vor ihrem Eintritt ins Rentenalter am 8. Juni 1986 verstarb. Was für ein hartes Leben.

Else Kaltenecker

… hier zusammen mit ihrem sehr früh verstorbenen Mann Gustav
… hier zusammen mit ihrem sehr früh verstorbenen Mann Gustav.Foto: Else Kaltenecker
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Ausgabe 40/2025
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