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Projekt Jahrgang 1943

Projekt Jahrgang 1943 Drei Frauen aus Rutesheim - alle Jahrgang 1943 - mit völlig unterschiedlichen Biografien - alle Mitglieder unseres Arbeitskreises...
Ilse mit der 5-jährigen Inge
Ilse mit der 5-jährigen IngeFoto: Inge Burst

Projekt Jahrgang 1943

Drei Frauen aus Rutesheim - alle Jahrgang 1943 - mit völlig unterschiedlichen Biografien - alle Mitglieder unseres Arbeitskreises Geschichte vor Ort - haben ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Sie wurden in den letzten Kriegsjahren geboren und zunächst von ihren Müttern großgezogen. Die Väter waren im Krieg verwundet, gefallen, vermisst oder geschieden. Diese Mütter haben unglaubliches geleistet, waren sie doch eigentlich meist nur vorgesehen und erzogen als treusorgende Ehefrauen, Mütter, Hausfrauen, Gastgeberinnen oder Gehilfinnen in der Landwirtschaft. Aber seit Kriegsbeginn spielten sie eine immer größere Rolle in der veränderten Welt. Sie mussten die Männer, die im Krieg waren, in allen Dingen im Alltag ersetzen, in Fabriken und in der Landwirtschaft, auch in der Herstellung von Bomben und anderem Kriegsgerät. Nebenbei wurde die übliche Familienarbeit verrichtet. Als Zeitzeugen wollen sie von dieser schweren Zeit erzählen - von ihren Müttern, vom Aufwachsen in der Nachkriegszeit, im Wirtschaftswunder und vom Bleiben oder Ankommen in Rutesheim.

3. Ilse Herrmann, 1922 – 2017, Mutter von Inge Burst

Kriegskinder - in dem Fall im Krieg geborene Kinder, sind zunächst zutiefst geprägt durch ihre Mütter. So auch in meinem Fall. Durch den laufenden Krieg bedingt, siedelte meine Mutter mit den Eltern und der drei Jahre jüngeren Schwester aus Ostpreußen nach Bitburg an die Westfront. Dort machte sie 1939 das sogenannte „Notabitur“ und ging dann nach Stuttgart um Chemie zu studieren, unter der „Obhut“ einer strengen Tante in Ludwigsburg.

Studium war damals für Mädchen nicht unbedingt vorgesehen, aber ihr Vater kam aus einer Professorenfamilie in Metz und in der Familie galt Bildung als ein hohes Gut und wurde bei entsprechendem Fleiß gefördert.

Bei einem Offiziersball meines Großvaters lernte sie einen jungen Mann kennen und lieben und 1941 gaben die jeweiligen Eltern die Verlobung den Freunden und Verwandten bekannt. 1942 bekam ihr junger Verlobter Genesungs- und Fronturlaub und es gab eine kurze Kriegsheirat - nicht der geträumte „große Tag“, aber immerhin zwei Monate Glück in einer eigenen Wohnung mit der angesammelten und geschenkten Aussteuer und fröhliche Tage mit Freunden. Dann ging es zurück an die Front - nach Stalingrad. Ein letzter liebevoller Brief mit von der Heeresleitung vielen geschwärzten Zeilen erreichte meine Mutter im März 1943, da hatte sie schon geschrieben, dass sie „guter Hoffnung“ war. Aber dann hörte sie vier Monate nichts mehr. Zwei - von 40 Mann des Zuges - überlebende Kameraden berichteten später, er sei wohl schwer verwundet und gefangen genommen worden. Wir haben trotz vielfältiger Versuche sein Schicksal nie aufklären können. Und so wurde ich im August 1943 im Bombenhagel bei Nacht in Bitburg geboren. Meine Mutter schleppte sich mutterseelenallein durch die verdunkelten Straßen zum Krankenhaus.

Bitburg wurde 1943 zu 85% zerbombt, deshalb wurden die Menschen evakuiert. Wer Verwandte hatte, ging dorthin – so meine Großeltern mit der jüngeren Schwester zu den Eltern meiner Großmutter nach Halle - meine Mutter mit mir dem Baby nach Thüringen zu einem Bauern. Dort musste sie sogar die Milch für mich beim Bauern stehlen, da die Leute sehr hartherzig waren.

1945 war dann endlich Kriegsende und Deutschland wurde in Zonen eingeteilt, die nicht verlassen werden durften. Aber die Großeltern und meine Mutter zog es natürlich zu ihren zurückgelassenen Wohnungen mit aller Habe nach Bitburg. So wurden russische Soldaten bestochen (meist mit Schmuck oder Pelzen) und es ging 1946 bei Nacht über die sogenannte „grüne Grenze“. Mir hat man später erzählt, dass man mir den Mund zugeklebt hatte. Beide Wohnungen waren jedoch unbewohnbar und so wurde man einquartiert in Häuser, die noch unversehrt waren. Wir bekamen zu viert ein Zimmer in einer großen Villa, die einem Verwandten gehörte. Eine wunderschöne doppelläufige Freitreppe führte zu den oberen fünf Räumen, in denen jeweils eine Familie wohnte. Der gemeinsame Flur war dann an Samstagen die Kinderwaschstelle in einer Zinkwanne. Das Haus hatte aber einen wunderschönen verwilderten Park. Für uns Kinder ein schöner Spielplatz.

Nun begann wieder das Warten auf Nachricht von meinem Vater und Großvater, denn langsam kamen viele vermisste Männer aus dem Krieg. Und so kam eines Tages ein ausgemergelter Mann - mein Großvater - aus russischer Gefangenschaft zusätzlich in unser Zimmer. Ich fürchtete mich vor ihm, denn zunächst saß er nur tagelang in unserem einzigen Sessel und hielt seinen selbst geschnitzten Löffel und den Essnapf fest, ohne ein Wort zu sprechen. Er musste mit ansehen, wie über Hundert seiner Untergebenen erschossen wurden. Er kam davon, da er in Metz geboren war und die Russen ihn fälschlicherweise für einen Franzosen hielten.

Mir fehlte es an nichts - umsorgt von Großmutter, Mutter und Tante. Sorgen hatte allein meine Mutter. Sie musste dafür Sorge tragen, dass alle satt wurden und gekleidet waren. Nahrungsmittel wurden in der Nachkriegszeit immer knapper, Erspartes war längst aufgebraucht. Vieles was aus den ausgebombten Wohnungen noch heil, schön oder wertvoll war, war längst gegen Kartoffeln eingetauscht oder geplündert worden. Und so wurde meine Mutter Schneiderin, ganz etwas anderes, als sie erträumt hatte. Zunächst zog sie mit mir von Dorf zu Dorf, um Näh- und Flickarbeiten zu übernehmen - ich musste immer mit, denn für mich gab es meist ein extra Stück Speck oder auch ein Ei.

Dann kamen die Franzosen als Besatzungsmacht und die französischen Damen brauchten alle besonders schöne Roben für das Casino. Meine Mutter war sehr begabt und entwarf und nähte immer neue Kreationen aus den Pariser Stoffen, so dass es unserer kleinen Familie bald etwas besser ging.

Ein großer Umbruch war die Heirat meiner Mutter an Weihnachten 1949, denn ich erhielt einen „neuen“ Vater und einen neuen Namen und 1950 dann auch einen kleinen Bruder. Wir wohnten aber auch in Trier zunächst in Behelfswohnungen, bis wir 1955 in ein eigenes Haus zogen - mit Bad und Dusche. Alles war nach wie vor knapp, aber nun hatten wir einen großen Garten und wurden Selbstversorger.

Wir machten viele Ausflüge mit einer Vespa, vorne stand mein kleiner Bruder, ich hinter dem „Lenker“ vor meinem Vater und ganz hinten die Mutter, bis sie mal herunterfiel. Da bekam sie dann ein Mofa zum Hinterherfahren. Diese Ausflüge hatten immer einen Zweck - Beeren oder Pilze sammeln, Löwenzahn oder Brenneseln pflücken, Nüsse oder Bucheckkern auflesen – alles, was die Natur an Essbarem oder Heilbarem hergab - oder wir gingen angeln. Geld war immer noch knapp, da alles neu angeschafft werden musste. Aber Gäste waren immer willkommen - auch wenn es nur Schmalzbrote und Tomaten aus dem Garten gab und natürlich Wein. Wein war an der Mosel ein Tauschgut – Arbeit und Bezahlung in Wein.

Ab 1960 wurde alles besser - das Büro meines Vaters wuchs, Mutter machte die Buchhaltung, lernte Schreibmaschine, erstellte Architekturmodelle und war uns Kindern nebenbei eine fordernde, preußisch strenge, aber auch fortschrittliche Mutter. Sie forderte Mithilfe, Leistung, Pünktlichkeit und Einsatz für Mitmenschen und Gemeinwohl, aber machte auch vieles anders als andere Mütter. Die aus ihrer Kindheit gewohnten Formen der Disziplin und Rituale gaben meiner Mutter Kraft, Halt und Sicherheit auch bei der Erziehung der Kinder, denn die Schrecken des Krieges waren auch nach 15 Jahren nicht vergessen. Sie gab ihren Kindern feste Regeln vor, die ihr selbst beim Existieren und Überleben geholfen hatten. Vieles was in Kriegszeiten von Frauen getan wurde, „schickte“ sich nun nicht mehr. Das Patriarchat gewann wieder die Oberhand und die erworbene Selbständigkeit und Verantwortung galt nicht mehr. Ein geflügeltes Wort dieser Zeit war „meine Frau muss nicht arbeiten“. Und sie durfte das auch nicht ohne Zustimmung des Gatten, es galten noch die Bestimmungen der Hausfrauenehe. Meine Mutter aber durfte den Führerschein machen und bekam ein eigenes Auto. Ich ging nach Stuttgart zum Studieren, der Bruder wurde erwachsen, ihr Leben wurde leichter.

Die Jahre vergingen arbeitsam und so freuten sich meine Eltern so langsam auf den Ruhestand. Aber dann eine neue Herausforderung. Mit 56 Jahren bekam sie ein dreijähriges Kind - das Kind meines Bruders, und aus den Plänen für große Reisen wurde nichts. Denn nun hatte sie erneut große Verantwortung für ein Kind, Kindergarten, Schule, Studium - alles begann erneut mit all den Facetten und Herausforderungen, die die Begleitung eines kleinen Menschen bis zum Erwachsenwerden mit sich bringen. Außerdem wurde ihr Ehemann mit fortschreitender Zeit auch pflegebedürftiger - er war neun Jahre älter, also zu dem Zeitpunkt schon 65 Jahre. 2000 war ihr Enkel dann mit dem Studium fertig, inzwischen war 1996 der Ehemann verstorben.

Die erlernte Prägung durch ihre Eltern und die Kriegserfahrungen, sich immer den Anforderungen des Lebens zu stellen, nie die Contenance zu verlieren, sondern stolz und klaglos durchzuhalten, ließ sie nie verbittern, sondern in neuen Herausforderungen immer auch etwas Gutes zu finden. 2001 entschied sie sich, das unter großen Opfern gebaute Haus in Trier zu verkaufen und in unsere Nähe zu ziehen - nach Leonberg. Dort konnte sie nun endlich noch 12 schöne „freie“ Jahre verbringen, in Stuttgart Kultur erleben und mit unserer Familie reisen. Nie wollte sie jemandem zur Last fallen. Aber nach zwei Stürzen und Krankenhausaufenthalten durfte sie dann am 8. Februar 2017 - im Alter vom 95 Jahren - in unserem Beisein einschlafen.

Im Alter rückt die Vergangenheit näher und so verstehe ich heute - selber alt - was ich früher abgetan habe: Sprüche wie - aus Verlust entsteht Stärke - was man anfängt, muss man zu Ende bringen - es wird nichts weggeworfen, man könnte es noch brauchen - sich nicht zu beklagen, anderen geht es viel schlechter - denke an deine Mitmenschen - sei nicht so stur, wenn es Veränderungen bedarf - aus Versagen erwächst neue Fähigkeit.

Dafür bin ich heute dankbar liebe Mutti, sei umarmt Deine Inge.

Inge Burst

Ilse Herrmann im Alter
Ilse Herrmann im Alter.Foto: Inge Burst
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Ausgabe 48/2025
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