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Projekt Jahrgang 1943 - Ilse Bellmann

Projekt Jahrgang 1943 Drei Frauen aus Rutesheim - alle Jahrgang 1943 - mit völlig unterschiedlichen Biografien - alle Mitglieder unseres Arbeitskreises...
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QR Code zur Langfassung der Biografie über Ilse BellmannFoto: Harald Schaber

Projekt Jahrgang 1943

Drei Frauen aus Rutesheim - alle Jahrgang 1943 - mit völlig unterschiedlichen Biografien - alle Mitglieder unseres Arbeitskreises Geschichte vor Ort - haben ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Sie wurden in den letzten Kriegsjahren geboren und zunächst von ihren Müttern großgezogen. Die Väter waren im Krieg verwundet, gefallen und vermisst.

Diese Mütter haben unglaubliches geleistet, waren sie doch eigentlich meist nur vorgesehen und erzogen als treusorgende Ehefrauen, Mütter und Gastgeberinnen.

Aber seit Kriegsbeginn spielten sie eine immer größere Rolle in der veränderten Welt. Sie mussten die Männer, die im Krieg waren, in allen Dingen im Alltag ersetzen, in Fabriken und in der Landwirtschaft, auch in der Herstellung von Bomben und anderem Kriegsgerät. Nebenbei wurde die übliche Familienarbeit verrichtet.

Als Zeitzeugen wollen sie von dieser schweren Zeit erzählen - von ihren Müttern, vom Aufwachsen in der Nachkriegszeit, im Wirtschaftswunder und vom Bleiben oder Ankommen in Rutesheim.

2. Ilse Bellmann, 1921 – 2011, Mutter von Karin Momberger

Manche von Ihnen erinnern sich vielleicht noch an Ilse Bellmann, die seit 1980 viele Jahre im Kindergarten Goethestraße als Sprachhelferin für die Kinder arbeitete, deren Muttersprache nicht Deutsch war. Sie war meine Mutter, und sie hat sich ihren letzten „Beruf“ bestimmt nie so vorgestellt.

Aber beginnen wir von vorne: Mein Name ist Karin Momberger. Geboren bin ich am 7. Juni 1943 in Braunschweig in Niedersachsen. Meine Mutter Ilse, geboren 1921,

erlebte als Kind die schweren Hungerjahre der frühen 20iger. Sie war ein kluges, aber sehr schüchternes Mädchen. Als eins der wenigen Mädchen dieser Zeit besuchte sie das einzige Mädchengymnasium in Braunschweig. Das schriftliche Abitur im Frühjahr 1940 schaffte Ilse sehr gut, aber bei der mündlichen Abiturprüfung im Herbst war sie so aufgeregt, dass sie der Prüfungskommission vor die Füße fiel. Diagnose: TBC. Am 6. Dezember 1940 erlitt sie noch dazu einen Blutsturz. Trotzdem ging sie bis Januar 1941 in die Schule und kam danach fast ein Jahr zur Kur nach Schömberg im Schwarzwald. Im Anschluss an die Kur hatte der Arzt ihr noch ein „Ruhejahr“ verordnet. Ilses wiederholtes Abitur im Jahr 1942 fiel entsprechend schlecht aus. Trotzdem hatte sie sich für einen Studienplatz in Göttingen für das Fach Anthropologie beworben und auch bekommen. Noch im selben Jahr heiratete sie den Juristen Dr. Alfred Gröger. Das junge Paar bezog eine neue, elegante Wohnung in Hamburg, aber Ilse fühlte sich in Hamburg nicht wohl. Als Alfred wieder in den Krieg ziehen musste, fuhr sie ganz schnell wieder nach Braunschweig zu ihrer geliebten Mutter.

Am 15. Oktober 1944 wurde Braunschweig Ziel eines Feuersturms der Royal Air Force (RAF). Braunschweig brannte zweieinhalb Tage ununterbrochen und über 90 % der mittelalterlich geprägten Innenstadt wurden zerstört.

Nach dem Krieg trennten sich meine Eltern. Sie hatten nie wirklich zusammengepasst, ihre Ehe war eine typische überstürzte Kriegsehe. Mein Vater eröffnete wieder eine Kanzlei in Hamburg, wo ich ihn regelmäßig besuchte, und bald heiratete er seine Anwaltsgehilfin. Ilse blieb in Braunschweig und lebte bei ihren Eltern.

Als ich 1949 mit 5 Jahren in die Schule kam, beschloss meine Mutter wieder zu arbeiten, und zwar im Geschäft ihres Vaters. Das war ein richtiger Familienbetrieb. Mein Opa war Geschäftsführer, mein Onkel leitete die Werkstatt, meine Mutter kümmerte sich um die Finanzen und den Ein- und Verkauf, meine Tante machte die Buchhaltung. Dazu kamen noch bis zu 60 Angestellte. Ilse arbeitete zuerst halbtags und später den ganzen Tag, einschließlich samstags, denn der Bosch-Dienst hatte natürlich auch samstags geöffnet. Meine Oma sorgte für mich und kochte für die ganze Familie, also für 7-8 Personen.

Dazu waren bis zu fünf Hunde zu versorgen, denn meine Großeltern hatten eine Hundezucht mit Airedale-Terriern angefangen. Eine meiner ersten Aufgaben war es, nachmittags die Hunde auszuführen.

Nach dem Abitur ging ich nach Germersheim (nahe Speyer), um an einem Institut der Universität Mainz Auslandswissenschaften zu studieren. Nach Braunschweig kam ich nur noch in den Semesterferien zurück, worunter meine Mutter sehr gelitten hat. Ich war doch ihr „Ein und Alles“. Nachdem ich meinen Manfred geheiratet hatte (den ich in den ersten Tagen beim Studium kennengelernt hatte) und wir nach Genf gezogen waren, heiratete meine Mutter 1969 zum zweiten Mal – diesmal einen langjährigen Arbeitskollegen, Ralph Bellmann, mit vier unmündigen Kindern. Nun hatte sie neben der Arbeit auch noch eine große Familie zu versorgen. Meine Oma war inzwischen so gebrechlich geworden, dass sie schließlich auch bei ihrer Tochter Ilse in der Wohnung der Familie lebte. Das Leben meiner Mutter sah also so aus: Arbeiten im „Geschäft“ mit zunehmender Verantwortung, weil mein Großvater zwar noch offiziell Geschäftsführer war, aber nichts mehr entscheiden konnte und mein Onkel mit dem Werkstattbetrieb ausgelastet war. Nur ihr Ehemann war ihr eine große Hilfe. Dazu musste sie ihre kranke Mutter pflegen und Essen für nun 9-10 Personen kochen. Zum Glück wohnte die Familie – die nun Bellmann hieß – direkt neben dem „Geschäft“, so dass zumindest die Wege kurz waren. Als meine Oma 1972 und mein Opa 1976 gestorben waren, war sie entsprechend erschöpft. Als erstes verkaufte sie zusammen mit ihrem Bruder das Geschäft. Aus verschiedenen Gründen war es in den letzten Jahren nicht mehr gut gelaufen und beide empfanden es nur noch als Ballast.

Manfred und ich waren nach fünf Jahren Genf 1972 nach Rutesheim gezogen und hatten uns als Redaktionsbüro mit dem Fachgebiet Luftfahrt und Flughäfen selbständig gemacht. Wir fanden eine Wohnung für meine Mutter und „Vater Bellmann“. Meine Mutter war glücklich, 1979 endlich zu ihrer geliebten Tochter und Enkeltochter Natalie zu kommen. Im ersten Jahr musste sie sich – genau wie Ralph – nur erholen. Dann erwachte wieder ihr Lebenswille, und sie unternahm mit ihrem Mann viele schöne Reisen. Ab 1980 fand sie auch eine neue Aufgabe in der Betreuung ausländischer Kinder im Kindergarten im Rahmen der damals noch jungen, von Inge Burst geleiteten Sprachhilfe. Auch ich war als Mitbegründerin dort tätig, aber aus beruflichen Gründen nur in der Betreuung der erwachsenen Frauen. Bei der Arbeit im Kindergarten konnte meine Mutter ihr großes kreatives Talent endlich ausleben. Diese Arbeit erfüllte sie bis zum Tod ihres Mannes im Jahr 2000 mit großer Freude. Auch unterstützte sie mich bei meiner Arbeit mit den türkischen Frauen, die ihr zur Beerdigung ihres Mannes nach guter türkischer Tradition das Essen lieferten. (Im Islam wird in einem Trauerhaus nicht gekocht).

Ilse überlebte ihren Ralph noch elf Jahre und starb kurz vor ihrem 90. Geburtstag am 1. Oktober 2011. Sie hatte ein erfülltes Leben mit vielen Höhen und Tiefen – und sie wurde von vielen Menschen geliebt – vor allem von ihrer Tochter.

Lesen Sie gerne eine Langfassung dieser Biografie über Ilse Bellmann über den nachstehenden QR-Code

Karin Momberger

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Stadtnachrichten – Amtsblatt der Stadt Rutesheim
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Ausgabe 43/2025
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