Begrüßung und Einführung Bürgermeister Matthias Kreuzinger.
Es gilt das gesprochene Wort.
Des Krieges Buchstaben
Kummer, der das Mark verzehret,
Raub, der Hab und Gut verheeret,
Jammer, der den Sinn verkehret,
Elend, das den Leib beschweret,
Grausamkeit, die Unrecht lehret,
Sind die Frucht, die Krieg gewähret.
So schreibt es Friedrich von Logau, ein deutscher Dichter, der im 17. Jahrhundert lebte. Er war ein Zeitzeuge des 30jährigen Krieges. Eines Krieges, der weite Teile Europas und insbesondere die deutschen Lande verheert hat. Seine Worte beschreiben den Krieg genau als das, was er ist: Schrecklich! Nun herrscht wieder Krieg in Europa, nicht weit von uns entfernt. Es sind nur rund 1200 Kilometer bis zur ukrainischen Grenze. Das sind nur 2 Stunden Flug von Berlin nach Kiew. Die Bedeutung des heutigen Tages ist das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Dies wird uns allen vor den aktuellen Geschehnissen in der Ukraine, im Nahen Osten aber auch in vielen anderen Teilen der Welt sehr deutlich. Anders gesagt: Es wird einem schmerzlich bewusst.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie alle zur Gedenkfeier der Gemeinde Heiningen am heutigen Volkstrauertag. Mein Gruß und gleichzeitig mein Dank gilt zunächst dem Posaunenchor des CVJM für die musikalische Umrahmung unserer Veranstaltung. Ich begrüße den Vertreter des VdK, Herrn Johann-Georg Frieß. Mein Gruß gilt den Kameradinnen und Kameraden der Heininger Feuerwehr und den Vertretern der Blaulichtorganisationen. Ich begrüße die anwesenden Gemeinderätinnen und Gemeinderäte. Besonders begrüßen möchte ich unsere Ministerin und Landtagsabgeordnete Nicole Razavi. Sie ist unserer Einladung gefolgt und es freut mich, dass sie die heutige Gedenkrede sprechen wird.
Gestatten Sie mir zuvor jedoch noch einige Worte. Das Gedenken zum Volkstrauertag hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Generation, die selbst den zweiten Weltkrieg und dessen Folgen wie Flucht und Vertreibung in unserem Land erlebt hat, verstummt nach und nach. Für viele, gerade für jüngere Menschen, ist das Gedenken an die Gefallenen und Toten der beiden Weltkriege und an die Opfer der Gewaltherrschaft etwas Abstraktes.
Ich selbst bin 1982 geboren worden. Zu einer Zeit, in welcher zwar noch der eiserne Vorhang Europa getrennt hat, aufgewachsen bin ich jedoch im Frieden und im Wohlstand. Als der Bürgerkrieg in Jugoslawien wütete, war ich noch zu jung, um das Ausmaß dessen, was dort geschehen ist, wirklich zu verstehen.
Ein erster großer Einschnitt war für mich persönlich der 11. September mit den furchtbaren Terroranschlägen in den USA und Tausenden von Toten. Ich habe genau zu dieser Zeit meinen Wehrdienst geleistet. Wir alle haben in der Kaserne die Fernsehbilder aus Amerika live verfolgt. Es war uns allen nicht klar, was in den nächsten Tagen und Stunden darauf folgen würde. Natürlich hatten wir alle Angst und Sorgen. In diesen Tagen mit einer scharfen Waffe am Kasernentor zu stehen oder den Zaun entlang zu gehen, das sind Eindrücke, die ich nicht mehr vergessen werde. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir da bewusst, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Ich machte mir ernsthafte Gedanken darüber, was Krieg für mich persönlich als jungen Menschen mit gerade 19 Jahren bedeuten würde.
In den Jahren danach verblassten diese Eindrücke wieder. In unserem Urlaub besuchten meine Frau und ich immer wieder Orte, die mit dem ersten und zweiten Weltkrieg verbunden sind. Dies bleibt bei Reisen in unsere Nachbarländer natürlich nicht aus. Auf dem Monte Piana in Südtirol sahen wir die Stellungen der italienischen und österreichischen Armeen auf mehr als 2300 m Höhe. Wir liefen auf dem Hartmannsweilerkopf im Elsass durch Schützengräben und sahen noch den Stacheldraht aus dem sinnlosen Krieg zweier Nachbarn. Im letzten Jahr, im Urlaub in Frankreich, besuchten wir Verdun mit dem Beinhaus und dem Fort Douaumont. In der Normandie standen wir am Strand von Omaha Beach und gingen über den amerikanischen Soldatenfriedhof in Colleville sur Mer. Die Besuche im letzten Jahr waren dabei bereits durch andere Eindrücke geprägt. Sie können es sich sicher denken.
Der russische Überfall und der brutale Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war eine absolute Zäsur. Auch für mich. Mit Entsetzen und Abscheu verfolgte ich die ersten Berichte und Fernsehbilder von der Bombardierung der ukrainischen Städte, vom Tod und dem Sterben der Soldaten an der Front und dem entsetzlichen Leid der Zivilbevölkerung. In Echtzeit erreichen uns diese Bilder, im Fernsehen, aber insbesondere über soziale Medien. Das macht diesen Krieg greifbar und die Bilder hinterlassen bei mir und uns allen verstörende Eindrücke.
Vor einiger Zeit habe ich in der SWR-Mediathek den Dokumentarfilm „20 Tage in Mariupol“ gesehen. Dieser Film dokumentiert einen Zeitraum, in denen ein Team ukrainischer Journalisten in der von russischen Truppen belagerten Hafenstadt Mariupol festsitzt. Als letztes internationales Reporterteam bemühen sie sich, die Gräueltaten der russischen Invasion zu dokumentieren. Sie fangen dabei ein, was später zu den prägendsten Bildern des Krieges wird: Sterbende Kinder, Massengräber, die Bombardierung einer Entbindungsklinik, Ärzte und Pflegepersonal, die den schwer Verletzten nicht mehr helfen können, zudem das Leiden der Menschen und den Verfall des zivilen Lebens durch Plünderungen.
In Zeiten der völligen Reiz- und Bildüberflutung war ich von dieser Reportage völlig geschockt. Ich musste sie beim Anschauen mehrfach unterbrechen und konnte teilweise nicht weitermachen, so unerträglich waren die dort gezeigten Bilder.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es herrscht wieder Krieg in Europa, nur 2 Flugstunden von uns entfernt. Es ist daher unsere Pflicht, dass wir heute gemeinsam das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft begehen.
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Rede
der Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen
Nicole Razavi MdL
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
lieber Matthias Kreuzinger,
Sehr geehrte Damen und Herren des Gemeinderats,
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Blaulichtorganisationen, aus den Kirchengemeinden, dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge, des VdK und den Vereinen,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich habe die Einladung, heute am Volkstrauertag hierher nach Heiningen zu kommen, sehr gerne angenommen.
An einem Tag der Stille, in einer Zeit der Stille. Es wird früher dunkel, das Leben verlagert sich langsam nach drinnen. Nebel legt sich oft wie eine Decke über unsere Dörfer und Städte. Laute und fröhliche Feste gibt es im November nicht. Wir sind eingeladen zur inneren Einkehr, zum Gedenken. An die Menschen, die nicht mehr bei uns sind. Die durch Krieg und Gewalt ihr Leben verloren haben. Das wollen wir heute gemeinsam tun.
Wir gedenken der Toten der beiden Weltkriege, aber auch der zahlreichen Opfer der viel zu vielen anderen Kriege auf der Welt, die es gegeben hat und leider immer noch gibt.
Wir gedenken der gefallenen Soldaten, der Millionen Zivilisten, Frauen, Kinder, alte und kranke Menschen, die durch kriegerisches Handeln ihr Leben verloren haben.
Unsere Gedanken sind heute bei den Opfern von Vertreibung und Gefangenschaft.
Bei den Toten des Widerstands gegen Diktatur und Unrechtsregime und bei all denen, die Opfer ihrer Überzeugung und ihres Glaubens wurden, die getötet wurden, nur weil sie einem anderen Volk, einer anderen Rasse, einer anderen Religion zugerechnet wurden ‑ in unserem Land und in vielen anderen Staaten der Welt.
Wir gedenken des unermesslichen Leids, das den Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik widerfuhr.
Wir gedenken der Opfer des Kalten Krieges, der Teilung unseres Landes und ganz Europas.
Wir schließen all jene in unsere Gedanken ein, die Opfer eines terroristischen Anschlags wurden oder auf der Flucht ihre Heimat verlassen und auf dem Weg nach Europa gestorben sind.
Wir gedenken all jenen, die jetzt und in dieser Stunde durch und Terror ihr Leben verlieren. In der Ukraine, im Nahen Osten oder anderswo auf der Welt
Der Volkstrauertag ist ein wichtiger Tag. Ein Tag, den wir brauchen und auf den wir uns einlassen sollten. Denn um Verstorbene zu trauern, schützt uns vor Gleichgültigkeit und Abstumpfen. Das gehört zum Menschsein dazu. Das vereint uns weltweit. Die Art und Weise mag sich unterscheiden, der Kern ist der gleiche: Die respektvolle Erinnerung an die Verstorbenen. Unabhängig davon, ob uns ein geliebter Mensch vor Monaten oder Jahrzehnten verlassen hat. Berthold Brecht sagte einmal: „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“
Den Generationen und dazu gehören die allermeisten von uns, die Krieg glücklicherweise nicht erleben mussten, sagen die Toten im Grauen der Bombennächte des zweiten Weltkriegs wenig, oder sogar nichts. Ihr Schicksal verschwimmt in Filmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wie viele wissen nichts über das Schicksal ihrer eigenen Großeltern. Gerade deshalb dürfen wir sie nicht noch einmal sterben lassen, indem wir sie totschweigen. Das ist eine große Aufgabe für eine Gesellschaft, die das Glück hat, nicht zu wissen, was Krieg bedeutet.
Zum heutigen Gedenken gehört auch, Anteil am Schicksal von Hinterbliebenen zu nehmen, die einen geliebten Menschen verloren haben. Sie dürfen mit ihrem Schmerz nicht alleine bleiben. Sie gehören in unsere Mitte und sie brauchen herzliche Anteilnahme. Heute und in Zukunft. Denn einen trauernden und verzweifelten Menschen tröstend in den Arm nehmen, das kann keine Künstliche Intelligenz jemals, das können nur wir Menschen uns gegenseitig geben. Trauer und Gedenken müssen dauerhaft ihren Platz haben. Eine Gesellschaft, die das verlernt, verliert ihre Menschlichkeit.
Wir gedenken heute in würdiger Umgebung, behütet von wunderbarem alten Baumbestand. Wir tun dies hier, am Ehrenmal für die Gefallenen, weil Erinnern bedeutet, sichtbar zu machen. Trauer braucht einen inneren Ort in der Seele, aber sie braucht auch einen äußeren Ort. Wo wir in unseren Gedanken eine Verbindung zu verstorbenen Menschen spüren können. Wie wichtig das ist, wird deutlich, wenn ein solcher Ort fehlt. Wenn jede Spur fehlt.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hilft mit seiner Arbeit bis heute vielen Hinterbliebenen, Antworten zu finden. Er schafft Orte, um in Würde zu trauern. Dafür und für all das Gute, was der VdK tut, möchte ich heute herzlich Danke sagen. Zu Ihrem Wirken gehört auch der mahnende Blick auf die Gegenwart.
Längst geht es am heutigen Tag nicht mehr nur um das Erinnern an die Verstorbenen zweier Weltkriege. Der Tag ist Mahnung zum Gedenken an die vielen Opfer von Krieg und Gewalt, die es heute immer noch gibt. Ein Appell für Frieden und Zusammenhalt.
Wohl niemand hätte sich vorstellen können, wie dringend notwendig er im Jahr 2024 ist. Wie jetzt, in unserer Gegenwart, wieder Dinge geschehen, die wir glaubten, überwunden zu haben. Seit zweieinhalb Jahren muss sich die Ukraine gegen einen Angriffskrieg wehren. Ein Krieg vor Europas Türen, in unserer Nachbarschaft. Dann der barbarische Anschlag auf Israel, das größte Morden unter Jüdinnen und Juden seit der Shoa. Das Sterben im Gaza-Streifen.
Das sind nicht die schwarz-weißen Bilder aus historischen Dokumentationen, das ist brutale Wirklichkeit. Sie erinnert uns beinahe täglich daran: Frieden und Verständigung sind in vielen Teilen der Welt auch heute nicht erreicht, nicht gesichert und schon gar nicht selbstverständlich. Das macht traurig und ist manchmal kaum zu ertragen. Es sollte uns bewusst machen, was es bedeutet, in einer friedvollen Region zu leben.
Vom früheren Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude-Juncker, stammt ein Satz, mit dem er zuweilen auf laute Kritik an europäischen Verordnungen reagierte: „Wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen.“ Auch das ist eine Botschaft des Volkstrauertags. Zu erkennen, dass wir dankbar sein sollten für nunmehr 70 Jahre in Frieden und Freiheit. Dass Demokratie und sozialer Zusammenhalt nicht selbstverständlich sind, sondern immer wieder aufs Neue gestärkt werden müssen. Wir dürfen diese Basis von Glück und Wohlsein nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Das meint der Leitspruch des Volksbundes: „Die Toten nehmen die Lebenden in die Pflicht. - Mortui viventes obligant.“
Deutschland und Europa haben erfahren, welch ein Schatz Frieden und Freiheit sind. Man hat die richtigen Lehren gezogen aus der Katastrophe. Und wer, wenn nicht wir in Deutschland, wären dazu berufen, uns weiter für Frieden und Aussöhnung einzusetzen. Das schließt auch den Gedanken mit ein, dass unsere Demokratie wehrhaft sein muss und sich gegen Herausforderungen zu bewähren hat. Um das zu schützen, was uns beschützt. Das gilt gerade in diesen Zeiten mehr denn je. Und das ist keinesfalls etwas, was Politik und Parlamente alleine hinbekommen. Wir alle sind gefordert. Jeder von uns kann und muss seinen Beitrag hierzu leisten. Im Sportverein, auf der Arbeit, beim Bäcker, zu Hause bei der Familie, unter Freunden. Jede kann in seinem eigenen Wirkungskreis Ausgrenzung, Ignoranz und Zwietracht entgegentreten. Etwa indem man zeigt, dass es auch anders geht. Manchmal ist eine kleine freundliche Geste der Hilfsbereitschaft, der Menschlichkeit schon viel wert. Für eine Gesellschaft, die Nein sagt zu Hass und Hetze. Wir dürfen in diesem Bemühen um Versöhnung, Aussöhnung und Achtung der unveräußerlichen Würde, die jedem Menschen zukommt, nicht nachlassen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dieser erste Satz unseres Grundgesetzes ist uns Mahnung und Lehre aus dunkler Zeit.
Ein Zitat drückt diesen verbindenden Gedanken auf sehr einfache und eindrückliche Art aus. Eine Aufforderung, sich im Sinne des heutigen Tages einzusetzen. Es stammt von John F. Kennedy aus einer Rede, die er 1963 in Washington gehalten hat: „Letzten Endes besteht unsere grundlegende Gemeinsamkeit darin, dass wir alle auf diesem kleinen Planeten leben. Wir alle atmen dieselbe Luft. Uns allen liegt die Zukunft unserer Kinder am Herzen. Und wir sind alle sterblich.“
Schließen möchte ich mit einem Satz aus einem Gottesdienst von heute Morgen: „Guter Gott lass uns nicht gefangen sein in einer Spirale aus Hass, Rache und Vergeltung“.