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Rutesheim im Zweiten Weltkrieg

Rutesheim im Zweiten Weltkrieg In der Leonberger Kreiszeitung erscheint aktuell die Serie „ Stuttgart im Zweiten Weltkrieg “. Zahlreiche Fotos und...
Vier Generationen im Jahr 1956
Vier Generationen im Jahr 1956Foto: Gudrun Schultheiss

Rutesheim im Zweiten Weltkrieg

In der Leonberger Kreiszeitung erscheint aktuell die Serie „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg“. Zahlreiche Fotos und Filmausschnitte aus dem Stuttgarter Stadtarchiv werden hier anlässlich des Kriegsendes vor 80 Jahren gezeigt.

Auch wir wollen mit einer Serie in vier Teilen an das Ende des Krieges in Rutesheim erinnern:

  • Teil 1 – Das Dritte Reich zwischen 1933 und 1944
  • Teil 2 – Fünf Tragödien zwischen dem 20. Februar und 20. April 1945
  • Teil 3 – Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre in Perouse
  • Teil 4 – Das Kriegsende und der Einmarsch der Franzosen

Teil 3 – Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre in Perouse

Unter dem Titel „Unvergessen – Mutter erinnert sich an die letzten Kriegsjahre“ veröffentlichte Gudrun Schultheiss (Jahrgang 1955) aus Perouse in ihrem zweiten Buch „Der Duft von Heu“ die Erinnerungen an diese Zeit. Damit wollte sie diese Geschichte auch an ihre eigenen Kinder weitergeben. Hören wir, was uns ihre Mutter, Hilde Hettich, von ihrer Jugend in den Kriegsjahren zu erzählen hatte:

„Im Jahre 1927 wurde ich, Hildegard Schüle, als erstes von drei Kindern einer Bauernfamilie, im kalten Monat Januar geboren und wuchs im kleinen Waldenserort Perouse auf. Ich war zwischen 16 und 18 Jahre alt, als ich die Folgen des Krieges in unserem Dorf mit Angst und Schrecken miterleben musste. Meine zwei Brüder Fritz und Helmut waren jünger als ich und ich fühlte mich oft für sie verantwortlich, während meine Mutter die viele Arbeit im Haus, im Stall und auf dem Hof erledigen musste.

Unser Vater wurde schon bald nach Norwegen eingezogen, wo er an der Front zusammen mit anderen jungen Männern tagtäglich um sein Leben bangen musste. Durch den Einzug der Männer, Väter und Söhne war der Mangel an Arbeitskräften in unserem Dorf sehr groß. Wo Hilfe notwendig war, wurde den betroffenen Familien eine Aushilfskraft zugeteilt. Diese Aushilfskräfte bestanden hauptsächlich aus Kriegsgefangenen oder aus Frauen und Männern der bereits eroberten Gebiete im Osten. Als Gegenleistung für ihre Mitarbeit durften diese fremden Menschen mit im Haus wohnen und zusammen mit der Familie am Tisch essen.

Meine Mutter bekam einen jungen Mann aus der Ukraine zur Hilfe. Sein Name war „Josef“ und er schlief direkt neben meinem Zimmer im kalten Bühnenraum. Ich musste keine Angst vor ihm haben, denn diese jungen Arbeitskräfte wussten sehr genau, dass es ihnen das Leben kostet, sobald sie sich etwas zu Schulden kommen lassen.

Meine Mutter Anna musste alleine mit uns drei Kindern und unserem Josef die ganze Arbeit in der Landwirtschaft verrichten. Dazu gehörte ein Stall voller Milchkühe, ihr Haushalt und die tägliche, harte Arbeit auf den Feldern. Der größte Teil musste von Hand gearbeitet werden. Wir bauten damals Getreide, Kartoffeln, Kraut und Rüben an. Mein jüngster Bruder war noch sehr klein und konnte nicht mithelfen. Ich erinnere mich noch genau, wie wir ihn in vielen Nächten schlafend, in einem geflochtenen Wäschekorb, in den Luftschutzkeller trugen, sobald die Sirenen auf dem Schulhausdach wieder einmal Fliegeralarm meldeten.

Eine ganz schlimme Zeit begann für uns Frauen im April 1945, als dunkelhäutige, marokkanische Soldaten mit Panzern unser Dorf einnahmen und reihenweise unschuldige, verängstigte Frauen vergewaltigten. „Wo Frauen?" schrien diese Soldaten, wenn sie ungefragt in die Häuser stürmten. Ich höre noch immer die entsetzlichen Schreie meiner Großmutter, als die Männer ihr in den Weidensätzen (Uferbepflanzung um den früheren Dorfsee) Gewalt antaten. Dorthin hatte sie vergeblich Schutz gesucht.

Meinem Großvater habe ich es wohl zu verdanken, dass mir selbst nichts geschehen ist und mir diese schweren seelischen und körperlichen Wunden erspart blieben. Beherzt und wohlwissend, was er tat, versteckte er mich in seiner Scheune, weit oben auf dem Heuboden. Dieser war nur über eine wacklige Leiter zu erreichen und das Versteck war relativ sicher. Ich musste so lange dort oben liegen bleiben, bis diese marokkanischen Soldaten unser Dorf verlassen hatten und weitergezogen waren. Ungefähr 8-10 Tage, verbrachte ich dort Tag und Nacht in großer Angst. Einmal am Tag brachte mir Großvater in einem geflochtenen Futterkorb eine warme Mahlzeit nach oben. Der Korb war mit einem Büschel Heu abgedeckt, so dass die Besatzer annahmen, dass Großvater auf dem Weg war, seine Tiere zu füttern, welche unter dem Heuboden im Stall standen.

Diese gefürchteten Soldaten haben auch in den Häusern randaliert und zum Teil großen Schaden angerichtet. In einer Dorfgaststätte machten sie sich den Spaß daraus, Radios im hohen Bogen durchs Fenster auf die Straße zu werfen. In anderen Häusern zerschnitten sie die Federbetten und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. In diesen schrecklichen Kriegsjahren haben wir kaum eine Nacht geschlafen. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie wir trotz der starken Übermüdung alle unsere Arbeit geschafft haben.

Mit der Wasserversorgung gab es in Perouse lange Zeit Probleme. In der Kriegszeit und noch einige Jahre danach kam oft kein Wasser aus den Leitungen. Meine Mutter Anna war dann gezwungen, unser Pferd an einen großen Leiterwagen zu spannen, auf dem ein Fass befestigt war und Gefäße für Trinkwasser Platz hatten. Mit diesem Gespann begleitete ich meine Mutter in den Nachbarort „Flacht“, um dort am Brunnen unser Fass und die mitgenommenen Gefäße aufzufüllen.

Auf dem Heimweg wurden wir einmal vom Fliegeralarm überrascht. Ich legte mich zusammen mit meiner Mutter ganz flach und reglos in den Straßengraben, während unser armes Pferd schutzlos vor dem eingespannten Wagen scheute und vor Angst schwitzte. Ich weiß nicht, wie oft wir unserem Herrgott „Danke“ sagten, weil er uns wieder einmal vor dem Schlimmsten bewahrt hatte.

Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges kamen deutsche Soldaten in unser Dorf und ließen sich im Gasthaus „Hirsch“, direkt neben meinem Elternhaus nieder. Nachdem auch der Wirt in den Krieg gezogen war, verlangten die Soldaten von mir, dass ich ihnen ein warmes Essen kochen sollte. Nach der vielen Gewalt, die in unserem Dorf schon stattgefunden hatte, war meine Angst vor diesen Soldaten sehr groß. Mein Großvater sprach mit den Männern und sie mussten ihm das Versprechen geben, dass mir nichts geschehen wird. So war es dann Gott sei Dank auch.

Nach und nach kamen dann die Männer und Väter aus den Kriegsgebieten an der Front zu ihren Familien zurück. Sie waren gealtert und hatten viel Schlimmes mit ansehen und erleben müssen. Viele von ihnen waren krank, verletzt oder schwer traumatisiert. Alle Familien, die ihre Männer, Väter und Söhne gesund und heil in die Arme schließen konnten, dankten Gott von Herzen für diese Bewahrung in der schlimmen Zeit.

Nachdem mit meinem Vater eine wichtige und wertvolle Arbeitskraft auf unseren Hof zurückgekehrt war, durfte ich für ein Jahr lang mein Elternhaus verlassen, um einer Bäckereifamilie in Öschelbronn den Haushalt zu führen. Ich bekam neue Eindrücke, mein Sichtfeld vergrößerte sich und ich konnte viel Praktisches lernen, was mir später in meinem eigenen Haushalt zugutekam. Inzwischen hatte ich auch meinen späteren Mann kennengelernt, einen Bauernsohn aus unserem Dorf, mit dem ich im Jahre 1954 eine eigene Familie gründete. 1955 wurde uns eine gesunde Tochter geboren und sieben Jahre später rundete ein kleiner Sohn unser Glück noch ab. Auf unserem Bauernhof erlebten wir trotz harter, körperlicher Arbeit viel Gutes miteinander, für das ich bis heute sehr dankbar und zufrieden sein kann.“

Nachdem ich die Geschichte meiner Mutter gehört hatte, war es mir ein Bedürfnis geworden, ihre Erinnerung an diese schwere Zeit wachzuhalten und besonders an die Menschen zu denken, denen der Zweite Weltkrieg das Liebste genommen hat. Das sind die vielen Mütter, die ihre Söhne in diesem unsinnigen, todbringenden Krieg verloren haben. Kinder, die nach dem Krieg keinen Vater mehr hatten und Frauen, die durch den Kriegstod ihres Mannes zur Witwe wurden und ihr Leben allein meistern mussten. Deshalb darf nicht vergessen werden, was damals geschah, damit wir alle bemüht sind, uns für den Frieden auf Erden einzusetzen.

Auf dem Foto sind zu sehen:

Links meine Mutter Hildegard Hettich, sie wurde nur Hilde genannt. Rechts meine Großmutter Anna Schüle. Sitzend meine Urgroßmutter Anna Christine Simondet – mit mir auf dem Schoß. Das Bild entstand 1956 vor dem Wohnhaus der Großmutter in der Hauptstraße 18. Später wurde an der Stelle die Zweigstelle der KSK in Perouse gebaut.

Gudrun Schultheiss

Erscheinung
Stadtnachrichten – Amtsblatt der Stadt Rutesheim
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Ausgabe 15/2025

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