In der Leonberger Kreiszeitung erscheint aktuell die Serie „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg“. Zahlreiche Fotos und Filmausschnitte aus dem Stuttgarter Stadtarchiv werden hier anlässlich des Kriegsendes vor 80 Jahren gezeigt.
Auch wir wollen mit einer Serie in vier Teilen an das Ende des Krieges in Rutesheim erinnern:
Der 20. April 1945 war der letzte Kriegstag in Rutesheim. Viele Zeitzeugen haben ihre Erinnerungen an diesen denkwürdigen Tag geschildert. Französische Kolonialtruppen (Tunesier und Marokkaner) erreichten am Vormittag mit ihren Panzern Perouse. Gegen 14.30 Uhr fuhren sie in Rutesheim ein. Die vom Volkssturm errichteten Panzersperren mit gefällten Bäumen bildeten kein ernsthaftes Hindernis. Drei Rutesheimer, Friedrich Kärcher, Wilhelm Binder und Rudolf Hettich, gingen den heranrückenden Soldaten mit einer weißen Fahne entgegen und verhinderten so ggf. weitere Zerstörungen des Ortes. Dieses Einschreiten wurde von den Militäreinheiten zum Anlass genommen, diese drei Personen in der Folge kommissarisch mit der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zu beauftragen, Friedrich Kärcher dabei als Bürgermeister.
Durch die Besetzung bekam die Rutesheimer Bevölkerung dennoch die ganze Grausamkeit des Krieges zu spüren. Etwa 120 Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, manche mehrfach. Häuser wurden geplündert, ebenso Hasen- und Hühnerställe. Radio- und Fotoapparate mussten abgeliefert werden. 30 Stück Vieh mussten für die Versorgung der Soldaten gestellt werden. Am späten Nachmittag wurden die Franzosen von Leonberg her durch deutsche Artillerie beschossen. Eine Granate schlug in der Nähe des Gasthauses Ochsen ein. An dieses schlimme Unglück mit Toten und Verletzen hatten wir schon im Teil 2 dieser Serie erinnert. Für den Abend und die Nacht verhängten die Besatzer von 19 bis 07 Uhr eine Sperrstunde, kein Zivilist durfte sich ohne Begleitung eines Franzosen auf der Straße zeigen. Für den 45-jährigen Hugo Hettich wurde dies zum Verhängnis, er begab sich mit seiner Frau und Tochter schutzsuchend in einen Luftschutzkeller. Mit den Worten: „Mir ist’s hier zu gefährlich, unheimlich!“ verließ der den Luftschutzkeller – allerdings nach Eintritt der Sperrstunde. Er wurde gestellt und auf Befehl des Kommandanten erschossen. Als es dunkel wurde, ließ der Beschuss nach und die Verletzten konnten versorgt werden.
Gerne veröffentlichen wir auch noch einen Augenzeugenbericht an diesen Tag.
Auszüge der Erinnerungen von Helmut Duppel:
Am Abend des 19. April ging eine Information durch den Ort: „Die Franzosen stehen am Waldrand vor Flacht und Perouse her. Morgen früh um 8:00 Uhr beginnen sie mit dem Beschuss Richtung Kirchturm!“ Weil wir in der Schusslinie vom Kirchturm wohnten, beschloss unsere Mutter Martha, mit ihren sechs Kindern – im Alter zwischen ein und zehn 10 Jahren - in das Haus von einer Freundin in der Rötestraße am Ortsrand Richtung Flacht zu ziehen. Diese Freundin war schon vor einigen Tagen mit ihrer Tochter nach Eltingen geflohen. Wir schliefen dort im Keller in den Obstregalen an der Wand. Unsere Mutter hatte Decken und Bettdecken mitgebracht. Gegen Morgen setzte Granatfeuer ein. Eine Granate schlug in das Dach ein, eine andere explodierte direkt vor dem Kellerfenster. Glas und Sand flogen durch unseren „Schlafkeller“. Der hohe Luftdruck ließ das Haus beben. Ein glühender Splitter prallte am metallenen Stützpfeiler ab und schlug eine Hand breit über mir in die Wand ein. Unsere Mutter zog uns Kinder samt Bettdecken aus den Regalen auf den Boden. Sand und Putz prasselte noch immer auf uns herunter. Sie wartete, ob das Haus zusammenfallen oder gar brennen würde. Dann rief sie: „Los raus – zum Nachbarn Kurfiss!“ Dieser wohnte an der Ecke Flachter Straße/ Rötestraße.
Wir rannten aus der Waschküche auf den Feldweg, den Hecken entlang. Die deutsche Artillerie schoss von der Heimerdinger Straße her mit Leuchtspurmunition auf die anrückenden französischen Verbände, darunter viele marokkanische und tunesische Soldaten. Dabei wurde die Festhalle getroffen. Ein Stück Mauer am Eck wurde zerstört. Die französischen Panzer rollten auf der Flachter Straße auf unseren Ort und auf uns zu. Mein älterer Bruder rief: „Sollen wir hinliegen?“ Die Mutter schrie: „Kerle mach, dass laufsch!“ Wir erreichten alle den Nachbarkeller. Dort war schon eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter.
Die französischen Soldaten mussten uns noch gesehen haben. Minuten später schoben sich zwei Gewehrläufe durch den Türspalt. Dann stießen zwei Soldaten mit den Beinen die Türe auf. Das Gewehr im Anschlag durchsuchten sie unseren Keller nach versteckten deutschen Soldaten. Da verlor unsere Mutter die Nerven und rief: „Oh ihr Angsthasen, da ist keiner!“ Blitzschnell drehten sich die Soldaten um und bedrohten unsere Mutter mit dem Gewehr. Sie wurde bleich vor Schreck und bewegte sich nicht. Wir Kinder fielen alle über unsere Mutter her und weinten. Wir ahnten damals nicht, dass unser Vater bereits seit ca. vier Wochen bei Königsberg vermisst war und nicht mehr nach Hause kommen würde.
Die Besatzungszeit der Franzosen dauerte 11 Wochen. Nachts herrschte Ausgangsverbot. Tagsüber mussten Fenster und Türen geschlossen bleiben. Ein französischer Ortskommandant befahl, dass die Frauen die Panzersperren, die der Volkssturm kurze Zeit vorher aufgebaut hatte, wieder mit Hacke und Schippe abbauen müssten. Als ich bei der Entfernung der Straßensperren helfen wollte, schickten mich die Mädchen fort, weil nur „Frauen“ den Befehl hätten, die Sperren zu beseitigen. Die Panzersperren waren drei Reihen Baumstämme, welche quer über die Straße zwischen zwei Häusern 1,6 m tief senkrecht eingegraben waren und noch ca. 2,0 m über die Straße hinausschauten. Die Panzersperren waren nicht effektiv, weil die Panzer diese durch Hinterhöfe, Zäune und Gärten umfahren konnten.
Am 8. Juli 1945, zwei Wochen bevor die Alliierten zu einem endgültigen Abkommen über die Besatzungszonen in Deutschland kamen, wurde in Leonberg und Rutesheim die französische Trikolore wieder eingeholt und das amerikanische Sternenbanner aufgepflanzt. Unter den Amerikanern verbesserte sich unsere Situation allmählich. Wir erhielten jetzt sogar Care-Pakete aus Amerika.
Harald Schaber