Gespannt lauschten die Kinder, als Samiya Bilgin ihnen die Geschichten erzählte, wie der Schnee auf die Erde kam. Um die 30 Kinder hatten es sich am Sonntagmorgen auf bunten Kissen vor der Kulisse im Schwetzinger theater am puls gemütlich gemacht; ihre Eltern und manche Großeltern saßen auf den Zuschauerrängen – weit genug, dass man seine Unabhängigkeit genießen konnte, und nah genug, dass man sie sehen und im Notfall ganz schnell zu sich herrufen konnte.
Märchenstunde war angesagt. „Es war einmal …“ hieß es auf der Einladung, die sich an Kinder ab 4 gerichtet hatte. Diesen Satz kannten alle, und was Märchen sind, wussten auch die meisten. Samiya Bilgin kündigte an, dass das Thema jahreszeitengemäß „Winter“ sei – und mit Winter verbunden ist der Schnee. Zur Einstimmung sangen alle zusammen das Kinderlied „Schneeflöckchen, weiß‘ Röckchen“.
Wie das Märchen ging, wie der Schnee auf die Erde kam, wussten auch schon viele, denn es war das Märchen von Frau Holle, von Goldmariechen, die für ihren Fleiß belohnt wurde, und von Pechmariechen, die faul war und daher mit Pech bestraft wurde. Die Gebrüder Grimm hatten das Märchen aufgeschrieben und bekannt gemacht. Dann erklärte die Erzählerin, dass Frau Holle in Wirklichkeit weit oben im Himmel und ganz tief in der Erde wohne.
Damit spielte sie darauf an, dass das Volksmärchen Frau Holle eine lange Erzähltradition mit mythologischen Ursprung hat. Als Vorbild der Frau Holle galt die Große Mutter und Schöpferin der Erde, eine Auslegung, die auch den Brüdern Grimm nicht unbekannt war. Jacob Grimm sah in ihr eine Verwandtschaft zu der nordischen Göttin Freyja bzw. zu der alpenländischen Perchta, die „Prächtige“, die „Glänzende“, und sogar zur griechischen Artemis. Sie wird auch mit der in regionalen Sagen beschriebenen "Weißen Frau" in Verbindung gebracht.
Sehr vereinfacht ausgedrückt: Frau Holle war Mutter Erde, wie Samiya Bilgin sie nannte. Sie erklärte, dass es viele Märchen von Frau Holle gebe.
Da erzählte sie ein zweites Märchen. Eine arme alte Mutter ging in den Wald, um Holz zu suchen, das sie später auf dem Markt gegen Lebensmittel für ihre Kinder eintauschte. Eines Tages fand sie da ein zitterndes, hungriges Kätzchen. Von Mitleid ergriffen, nahm sie das Kätzchen mit nach Hause, und ihre Kinder versorgten es. An einem Morgen war das Tier verschwunden.
Auf der Suche nach ihm begegnete die Mutter einer großen, weißgekleideten Frau, die ihr einen Wollknäuel schenkte. Die Mutter nahm die Wolle mit nach Hause, und am nächsten Morgen lag ein Paar Socken neben dem Wollknäuel, ohne dass die Wolle weniger geworden wäre. Dieser Vorgang wiederholte sich immer wieder, und die Frau konnte die Socken auf dem Markt verkaufen, und keiner musste mehr Hunger leiden. Es war der Dank der großen Frau – eine Gestalt von Frau Holle – dafür, dass das hungrige Kätzchen versorgt worden war. Samiya Bilgin hatte noch eine dritte Geschichte mit Frau Holle auf Lager. Ein Mann ging in den Wald zum Holzsammeln, wo ihm eines Tages Frau Holle auf einem Schlitten begegnete.
Einer der Kufen an dem Gefährt war kaputt, und der Mann reparierte ihn. Als Dank schenkte Frau Holle ihm Holzspäne. Er fand das keinen passenden Lohn für seine Arbeit und ließ sie auf dem Boden liegen, wobei ein paar davon in seine Hosen gerieten. Diese verwandelten sich in Gold – und er und seine Familie waren nun reich. Einer vierten Geschichte zufolge kam Frau Holle immer am 6. Januar, dem Ende der Raunächte, nachts auf dem Schlitten durch die Lande. Sie hatte die kleinen Seelen der Kinder dabei, die in diesem Jahr geboren werden würden.
Es war aber verboten, Frau Holle zu sehen, daher blieben die Menschen zu Hause. Die neugierige Magd einer Bäuerin, die nicht wirklich an Frau Holle glaubte, hielt sich nicht an das Verbot und versteckte sich in der Nacht und wartete. Tatsächlich kam Frau Holle. Sie fühlte sich aber durch zwei Lichter gestört und wies den Wind an, sie auszupusten. Dies waren jedoch die Augenlichter der Magd, die nunmehr blind war. Im Laufe des folgenden Jahres lernte die Magd zu riechen, zu fühlen, zu hören. Auch diese Geschichte fand ein glückliches Ende.
Nachdem die Geschichten erzählt worden waren, wies Samiya Bilgin die Kinder an, über die Geschichte, die ihnen am meisten zugesagt habe, ein Bild zu machen. Dazu stellte sie den Kindern Mal- und Bastelsachen zur Verfügung. Auch die Eltern durften sich beteiligen und setzen sich mit den Kindern auf den Boden vor die Kulisse. Zum Schluss wurden alle Bilder betrachtet und besprochen.
Nach etwa eineinhalb Stunden war der Sonntagmorgen im Theater vorbei. Samiya Bilgin ist Lehrerin und hat einen guten Draht zu Kindern. Sie ist aber auch ausgebildete Schauspielerin, Autorin und Spezialistin für Märchen. Sie lebt in Schwetzingen. Es war wunderbar zu beobachten, mit welch offener, geduldiger und herzlicher Zuwendung sie auf die Kinder einging, deren Namen sie sogar großenteils kannte. – Samiya Bilgin hat immer wieder Auftritte im Theater am Puls; der nächste Auftritt findet statt am 23. März 2025. Dann wird es um den Frühling gehen.