Seit 1999 wird am ersten Sonntag des Monats September der „Europäische Tag der jüdischen Kultur“ begangen. Der Gedenktag wird veranstaltet von jüdischen und nichtjüdischen Organisationen in mittlerweile nahezu 30 Ländern Europas. Er soll dazu dienen, die Geschichte, Traditionen und Bräuche des europäischen Judentums einer breiten Öffentlichkeit besser zu vermitteln.
Die Europäische Vereinigung zur Bewahrung und Förderung von Kultur und Erbe des Judentums mit Sitz im spanischen Gerona koordiniert die verschiedenen Ausstellungen, Vorträge, Konzerte und Führungen zu Stätten jüdischer Kultur. Eine solche sichtbare Stätte der Erinnerung an jüdisches Leben gibt es auch in Weingarten, nämlich den jüdischen Friedhof im Gewann Effenstiel zwischen dem Heuberg und der Waldersteig.
In Baden-Württemberg wurden unter dem Leitthema „Familie“ zahlreiche Veranstaltungen angeboten. „Zuständig dafür sind die jüdischen Gemeinden vor Ort sowie lokale Vereine zum Erhalt von Synagogen und jüdischen Friedhöfen“, erläutert der Hauptgeschäftsführer der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Baden, Thorsten Orgonas.
In Weingarten hat sich der Bürger- und Heimatverein der Bewahrung jüdischen Erbes angenommen. So veröffentlichte er bereits 1991die Broschüre „Die Geschichte der Juden in Weingarten (Baden) von den Anfängen im Mittelalter bis zum Holocaust“. Sie basiert im Wesentlichen auf einer Seminararbeit, die Hayo Büsing als Student schon 1983 an der Evangelischen Fakultät der Universität verfasst und Robert Hill redaktionell überarbeitet hat. Die Broschüre stieß auf große Resonanz und wurde auf vielfachen Wunsch 2004 vom Bürger- und Heimatverein in zweiter Auflage veröffentlicht.
Im kurpfälzischen Weingarten wurden bereits im 16. Jahrhundert Juden zum Schutz aufgenommen. „Ab 1743 stieg die Zahl der Israeliten deutlich an und umfasste 1825 bereits 120 Personen“, berichtet Wilhelm Kelch in seiner 1985 erschienenen Ortschronik „Tausend Jahre Weingarten“. Es wird vermutet. dass die kleine jüdische Gemeinde bereits kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg ihre erste Synagoge erbaut hatte.
Gemeindeakten aus dem 19. Jahrhundert belegen, dass der jüdische Synagogenrat sowohl für die jüdische als auch für die politische Gemeinde Weingarten von großer Bedeutung war. Der Neubau einer Synagoge im Jahr 1840 ist genau dokumentiert. Aus alten schriftlichen Unterlagen geht ebenfalls hervor, dass die Weingartener Juden gut in das örtliche Wirtschafts- und Vereinsleben eingebunden waren. Bereits ab etwa 1900 sank jedoch ihre Zahl vermehrt durch Auswanderungen. Mit der Zerstörung der Synagoge nach der Reichspogromnacht im November 1938 und der Deportation der letzten 24 verbliebenen Juden am 22. Oktober 1940 in das Konzentrationslager Gurs in Südfrankreich fand das jüdische Leben in Weingarten ein jähes und brutales Ende.
In einem Jugendprojekt der Kolpingsfamilie mit dem Titel „Spurensuche“ wurden die ehemaligen Wohnhäuser der Juden in Weingarten dokumentiert und 2007 wurden auf Initiative Weingartener Bürger die ersten Stolpersteine zur Erinnerung verlegt. Aus einer Veranstaltung zum Gedenken an die Deportation nach Gurs ging die Arbeitsgemeinschaft „Jüdisches Leben in Weingarten“ hervor. Außer Privatpersonen, der Kolpingfamilie und Vertretern beider Kirchen wirkt auch der Bürger- und Heimatverein mit.
Es hat allerdings lange gedauert, bis man sich an dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte auch in Weingarten erinnerte. In den 1960er Jahren hatte die Landesregierung die Archivdirektion Stuttgart beauftragt, entsprechendes Material zu sammeln und zu dokumentieren. Eine Anfrage sei von der Gemeindeverwaltung nur zögernd und ungenau beantwortet worden, geht aus dem Schriftwechsel hervor.
Erst 1985 wurde an der Ostfassade der katholischen Kirche eine Gedenktafel angebracht, die an die ehemalige Synagoge an der Einmündung der heutigen Keltergasse erinnert. Eine weitere Gedenktafel ließ der Gemeinderat im Jubiläumsjahr 1991 am Wartturm, der mit dem Friedensengel an alle Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft gemahnt, anbringen.
„Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Diese tiefe jüdische Weisheit zeigt den einzig gangbaren Weg des Gedenkens und der Erinnerung auf. Denn letztlich geht es darum, geschichtsbewusst zu leben und die Gegenwart in Verantwortung für die Zukunft zu gestalten. (rof)