Die Kulturtagung der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn (LDU) war in diesem Jahr gepaart mit einem Festakt anlässlich des 75. Geburtstages der Landsmannschaft. Die Festrede hielt der stellvertretende Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Thomas Strobl.
Zur diesjährigen Kulturtagung der LDU konnte Bürgermeister Dirk Oestringer rund 100 Gäste begrüßen, unter ihnen der Bundestagsabgeordnete Steffen Bilger, der ungarische Generalkonsul Dr. András Izsák, der Leiter des ungarischen Kulturinstituts in Stuttgart, Dr. Dezsö Szabó, die Vorsitzende der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU), Ibolya Hock-Englender, der Bundes- und Landesvorsitzende der LDU aus Ungarn, Joschi Ament, der Bundesgeschäftsführer der LDU Erich Gscheidle, sein Vorgänger als Patenonkel der LDU Georg Brenner und der langjährige Erste Beigeordnete Dietrich Schönfelder sowie viele aktuelle und ehemalige Mitglieder des Gerlinger Gemeinderates, anderer Landsmannschaften und den Leiter des Gerlinger Stadtarchivs, Klaus Herrmann.
Partnerschaften und auch Patenschaften seien für unsere Welt unerlässlich. In den Schlagzeilen sei überall von Kriegen und Konflikten zu lesen, positive Meldungen über Frieden seien derzeit nicht zu finden. Nicht zuletzt deshalb würden Partnerschaften und Patenschaften in ein ganz neues Licht treten. „Würde man einem Freund Gewalt und Leid antun“, fragte Oestringer und beantwortete die Frage gleich selbst mit einem klaren „Nein“. Das zeige, wie wichtig es ist, Brücken zu bauen und wie wichtig Freundschaft und gegenseitiges Verständnis sind. Die Gerlinger Patenschaften und Partnerschaften hätten auch ihren Teil dazu beigetragen. Die Kulturtagung sei seit über 50 Jahren eine Plattform für geschichtliche und wissenschaftliche Vorträge. Gerlingen sei seit 1969 Patenstadt der Landsmannschaft. Gemeinsam habe man sich verpflichtet, das kulturelle Erbe der Ungarndeutschen zu erhalten. Dazu würden Veranstaltungen wie die Kulturtagung, aber auch die Schwabenbälle, Ausstellungen, Musik und Tanz beitragen.
Der Vorsitzende der LDU Joschi Ament freute sich, dass so viele zu der Geburtstagsfeier gekommen waren. Für ihn ein klares Indiz dafür, wie wichtig den Ungarndeutschen der Erhalt ihrer Geschichte und Kultur ist. Vor drei Jahren habe man die Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen und der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn mit dem Ziel, die Verbindung untereinander zu verstärken, erneut unterzeichnet. An der Stelle erinnerte Ament daran, dass die LDU in Baden-Württemberg aus dem katholischen Caritasverband unter Dr. Ludwig Leber entstanden ist. Die Gründung der LDU sei am 19. November 1949, gerade einmal vier Jahre nach der Vertreibung, vollzogen worden. Die Vertriebenen seien damals in ein Land gekommen, in das der Krieg viele Wunden geschlagen habe. „Wir wissen das noch, aber weiß das die junge Generation auch?“ Tatsächlich sei festzustellen, dass die Jugend viel zu wenig über die Geschichte ihrer Großeltern weiß und viele hätten auch ein falsches Bild vom Ende des Krieges. Als der Zug mit den ersten Vertriebenen hier ankam, sei das Land schon überfüllt gewesen und die Lage nahezu unbeschreiblich. Seit damals hätten sich manche Dinge komplett verändert, andere hätten sich nur den heutigen Umständen angepasst. Die Ungarndeutschen würden bis heute ihre Kultur und ihr Brauchtum leben und ihre Tradition bewahren. Die Geschichte betrachte man aber anders und man habe auch einen Blick auf die Gegenwart und die Zukunft. Wichtig sei, dass sich alle, die ungarndeutsches Blut in sich tragen, beteiligen und die Partnerschaften für ein vereintes und friedliches Europa pflegen. „Seien Sie ungarndeutsch und stehen Sie dazu.“
Den diesjährigen Vortrag im Rahmen der Kulturtagung hielt anschließend die Journalistin Krisztina Szeiberling-Pánovics, die 2021 den Förderpreis des Donauschwäbischen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg erhalten hat. Unter der Überschrift „Vergangenheit hat Zukunft“ berichtete sie über die ungarndeutschen Lehrpfade, die 2014 auf den Weg gebracht wurden. Schon damals sei Ibolya Hock-Englender bei dem Projekt dabei gewesen, hielt die Referentin fest. Beteiligt an dem Projekt seien die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, ungarndeutsche Kommunen, eine Kommunikationsagentur und das Bundesministerium des Inneren und für Heimat. Ziel des Projektes sei die dauerhafte Stärkung der ungarndeutschen Identität. Bei den Überlegungen zur Umsetzung dieses Ziels habe man sich schnell darauf verständigt, Lehrpfade einzurichten, an deren Erstellung die Menschen in den ungarndeutschen Gemeinden beteiligt werden sollten. Entstehen sollten Themen-Wege, bei denen die Betrachter persönliche -, Familien- und Dorfgeschichten kennenlernen, und die Vermittlung sollte über interaktive Tafeln und schriftliche Führer, über eine Online-Plattform, aber auch durch Führungen erfolgen. Gestartet wurde mit zwei Pilotprojekten in den Gemeinden Schomberg und Sanktiwan. Man habe dabei darauf geachtet, dass die Lehrpfade ein einheitliches Erscheinungsbild haben, die Inhalte seien je nach Ort sehr verschieden, hätten aber alle einen formalen Leitfaden und ein Motto. Schon bei den beiden Pilotprojekten hätten die Beteiligten sehr viele Informationen zusammengetragen. Um das jeweils Besondere herauszufiltern, habe man sich deshalb mit Maria Frei professionelle Hilfe geholt. Inzwischen gibt es bereits 16 Gemeinden mit einem ungarndeutschen Lehrpfad. Die vermittelten Informationen seien jeweils auf Ungarisch und Deutsch zu lesen, so Szeiberling-Pánovics. Und das Projekt sei inzwischen auch bei anderen Volksgruppen auf großes Interesse gestoßen. In wenigen Tagen werde in Elek der 17. Lehrpfad eingerichtet und der 18. dann voraussichtlich Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres in Budapest. Die Lehrpfade würden sehr gut ankommen, freut sich Szeiberling-Pánovics. Tatsächlich würden sie jährlich von rund 70 bis 80 Gruppen besucht und auch viele Einzelpersonen würden die Gelegenheit nutzen, sich über die Geschichte zu informieren.
Ament, dessen Vorfahren aus Elek stammen, lud alle ein, an bei der Einweihung des Lehrpfades dabei zu sein. Vielleicht nehme die LDU das Thema auch in Deutschland auf.
Zum Auftakt des Festaktes anlässlich des 75-jährigen Bestehens der LDU spielte dann das Jugendorchester der Jugendmusikschule Gerlingen unter der Leitung von Katrin Dieterich-Firnau Stücke von Dvorak, Schubert und Nosske.
Bürgermeister Oestinger dankte Szeiberling-Pánovics für ihren interessanten Vortrag und dem Jugendorchester für den musikalischen Auftakt. Im Rahmen der Kulturtagung feiere man auch das 75-jährige Bestehen der Landsmannschaft. Er freue sich, dass Thomas Strobl, Landesinnenminister und Landesbeauftragter für Vertriebene und Spätaussiedler, den Festvortrag halte. Oestringer erinnerte auch daran, dass die LDU nur wenige Tage nach Unterzeichnung des Grundgesetzes gegründet worden sei. Die Caritas habe sich damals um die Vertriebenen gekümmert. Und auch heute arbeite Gerlingen in der Flüchtlingsarbeit mit der Caritas zusammen. Das Stadtoberhaupt hielt weiter fest, dass die Ungarndeutschen viel zu dem beigetragen hätten, was Gerlingen heute ist. Auch Oestringer betonte, dass sich seitdem vieles weiterentwickelt habe, die hier geborenen Ungarndeutschen würden aber bis heute ihre Traditionen bewahren und die Verbindung in die Heimat ihrer Eltern halten.
Innenminister Strobl erinnerte in seiner Festrede daran, dass die Landmannschaft der Deutschen aus Ungarn eine der ersten Landsmannschaften war, die in Deutschland gegründet wurde. Die Landmannschaft sei älter wie Baden-Württemberg. Dass die Ungarndeutschen Teil des Wirtschaftswunders seien, wisse vielleicht der eine oder andere noch. Dass sie das Land auch kulturell bereichert hätten, sei dem einen oder anderen bekannt. „Dass sie auch politisch eine entscheidende Rolle gespielt haben, wissen die wenigsten.“ Ohne die Stimmen der Heimatvertriebenen gäbe es Baden-Württemberg heute gar nicht. „Die Volksabstimmung 1952 wäre ohne ihre Stimmen gescheitert.“ Die LDU könne heute auf ein erfolgreiches 3/4-Jahrhundert zurückblicken. Es sei toll, was sie in den letzten 75 Jahren geleistet habe und bis heute leistet. „Danke für das tolle Engagement.“ Er selbst sei nun seit acht Jahren Landesbeauftragter für Vertriebene und er habe durch die Beschäftigung mit der Geschichte der Heimatvertriebenen viel gelernt und er habe in der Funktion auch viele schöne persönliche Begegnungen erleben dürfen. Die Heimatvertriebenen oder Spätaussiedler gebe es nicht, denn jede Landmannschaft habe bis heute ihre eigene Struktur.
An der Stelle zitierte Strobl den Philosophen Odo Marquard mit den Worten: „Der Blick in die Vergangenheit ist für die Zukunft entscheidend wichtig“. Die Heimat in Ungarn zu verlassen, sei für die dort lebenden Deutschen kein Akt der Freiwilligkeit gewesen. Und die Vertriebenen seien damals alles andere als willkommen gewesen. Das Rad der Geschichte könne man nicht mehr zurückdrehen, so Strobl weiter. Man müsse aber gegen rassistische Tendenzen und Begrifflichkeiten wie Remigration entschieden vorgehen. „Völkische Konzepte sind mit unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht vereinbar.” Den Ungarndeutschen, die sich mit Worten und Taten für den Frieden in Europa einsetzen, sei er sehr dankbar. Dieser Einsatz sei heute wichtiger denn je. Mit diesen Worten dankte Strobl der Landsmannschaft für die gute Zusammenarbeit und für ihre Rolle als Brückenbauer. „Ich würde mich freuen, wenn sie das fortführen können.“
Ibolya Hock-Englender betonte in ihrem Grußwort, wie wichtig die Verbindung zwischen LDU und LdU sei. Durch die erneute Unterzeichnung der Vereinbarung habe man zum Ausdruck bringen wollen, dass beiden Teilen der Ungarndeutschen die Zusammenarbeit weiterhin sehr wichtig ist. Beide Teile hätten zum Teil dieselben Probleme. Nicht zuletzt deshalb werde das Motto „sei ungarndeutsch und stehe dazu“ von beiden gleichermaßen genutzt. Zusammen könne man es schaffen, dass aus der gemeinsamen Vergangenheit auch eine gemeinsame Zukunft wird, ist Hock-Englender überzeugt.
Ament bedankte sich bei Strobl für die Festansprache und lud ihn ein, die LDU einmal auf einer Reise nach Ungarn zu begleiten. Ihm sei im Sommer die Ehre zuteilgeworden, zum Ehrenbürger von Elek, der Heimatstadt seiner Eltern, ernannt zu werden. Tatsächlich habe es den Titel dort bis August 2024 noch gar nicht gegeben. Als er gefragt worden sei, ob er zu der Ehrung etwas sagen wolle, habe er zunächst kein Wort herausgebracht. Tatsächlich seien alle lobenden Worte und alle Anerkennung nicht den Verdienst einer einzelnen Person, sondern den Verdienst von vielen. Mit diesen Worten bedankte sich Ament bei seinen Vorgängen als Vorsitzende der LDU, bei den Patenonkeln der LDU in Gerlingen, beim ehemaligen Leiter des Gerlinger Hauptamtes und heutigen Geschäftsführers der LDU, Erich Gescheidle und auch bei den aktuellen und ehemaligen Gerlinger Gemeinderäten namentlich bei Horst Arzt, der das Ungarndeutsche sehr schätzen und lieben gelernt habe. Abschließend forderte Ament alle auf, sich auch weiterhin mit Herz und Mut für Sicherheit, Frieden und Freundschaft einzusetzen. „Unsere Vergangenheit hat Zukunft und ich freue mich auf eine gemeinsame Zukunft.“
Text/Fotos: Tommasi