Im Rahmen der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ wurde im Palatin ein beeindruckendes Bühnenstück aufgeführt. Zwei Schauspieler spielten Anne Frank und Adolf Hitler in einer szenischen Lesung. Gewaltig prallten die beiden historischen Personen aufeinander. Zwischen den Szenen sang Marianne Blum Protest- und Durchhaltelieder auf Jiddisch und Deutsch sowie Schlager aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Blum als Anne Frank und Thomas Linke als Adolf Hitler betreten die Bühne. Es folgt ein kurzes Streitgespräch zwischen den beiden Figuren. Anne Frank beendet es mit trotzigem Verweis auf ihr weltberühmtes Tagebuch. In vielen Ländern steht es auf dem Lehrplan, während Hitlers „Mein Kampf“ verboten wurde. Danach nehmen die Schauspieler ihre Plätze ein. Ein reduziertes Bühnenbild zeigt Anne Frank am Schreibtisch und Hitler an einem Rednerpult. Das Tagebuch gilt als eines der berühmtesten Tagebücher der Welt. Darin beschrieb die dreizehnjährige Anne Frank von 1942 bis 1944 Gedanken und Gefühle in ihrem Versteck vor den Nazis. Nach Verrat und Verhaftung starb sie zusammen mit ihrer Schwester im Konzentrationslager Bergen-Belsen, kurz vor der Befreiung durch die Alliierten.
Der Bühnenscheinwerfer beleuchtet die Figur, die gerade spricht. Die andere erstarrt fast puppenhaft in der Dunkelheit. Anne beschreibt die zunehmende Schikanierung der Juden durch täglich neue Verbote. Alltägliches, wie Aufhalten im öffentlichen Raum, Benutzung der Straßenbahn bis hin zur Nutzung des eigenen Gartens, werden immer weiter eingeschränkt. Noch beschreibt sie die irrsinnige Entwicklung als „ertragbar“.
Hitler spricht selbstgefällig über sein Talent als Kunstmaler und die Aufnahme in die Kunstakademie, mit der er fest rechnet. Jedoch wird er abgelehnt und radikalisiert sich in München. In immer extremeren Textpassagen aus „Mein Kampf“ eskaliert seine Hetze gegen Juden. Er schwadroniert über die Erziehung des Volkes zu seiner Rassenideologie als wesentlichen Zweck der Schulbildung.
Dem gegenüber stehen Annes nachdenkliche Textpassagen, die von ihrem hohen Bildungsgrad zeugen. Wenn Blum mit leiser Stimme vorträgt, sieht man Anne Frank vor sich, die tagebuchschreibend über den nächsten Satz sinnt. Die Passagen wechseln zwischen Hoffnung und Verzweiflung, je nach den Nachrichten zum Krieg, die in ihr Versteck dringen. Thomas Linke dreht in der Rolle als Hitler immer weiter auf. Er scheint sich nicht nur optisch, sondern auch stimmlich immer mehr dem Diktator anzunähern. Keifend und spuckend verstrickt sich dieser immer tiefer und wahnsinniger in seinen Rassenhass.
Marianne Blum, eine ausgebildete Mezzosopranistin, unterstreicht einzelne Passagen, indem sie nach der Lesung aus dem Tagebuch Lieder vorträgt. Erst liest sie über Anne Franks Lebenswillen und Träume von einer Schriftstellerkarriere, dann singt sie das jiddische Lied „Wir leben ewig (Mir lebn eybik)“ und begleitet sich dabei auf der Ukulele. Das Lied von den „Moorsoldaten“ folgt einem ängstlicheren Eintrag. Einmal dient Zarah Leanders Schlager „Davon geht die Welt nicht unter“ als sarkastischer Kommentar.
Nach der Vorstellung stellten sich die Schauspieler noch über eine Stunde den Fragen der sichtlich betroffenen Zuschauer. Nach dem intensiven Theatererlebnis gab es viele Fragen. Blum beschrieb die Idee, Täter und Opfer gegenüberzustellen als das Natürlichste der Welt. Beide historischen Figuren gehörten untrennbar zusammen. Das Publikum stimmt der Einschätzung zu. Die Aufführung machte das Leiden der Juden im Nationalsozialismus und den wahnsinnigen Hass in Hitlers Rassenideologie durch die direkte Gegenüberstellung so nachdrücklich.
Thomas Linke beschrieb das Gefühl des Hineinversetzens in Hitlers brennenden Hass. Es greife seine Seele an und jeder Auftritt kostet ihn gefühlt zwei Tage seines Lebens.
Intensiv wurden aktuelle Bezüge zum Wiedererstarken rechter Parteien gezogen. Wie entsteht so viel Hass und was kann man ihm entgegensetzen? Jüdische Personen im Publikum fragten sich, ob der Antisemitismus in Deutschland vielleicht nie weg, sondern nur verdeckt war. Blum teilte ihre Erfahrungen aus Aufführungen: Regelmäßig sprachen Zuschauer Erfahrungen aus der eigenen Familie an. Angehörige, die bis zum Tod dem Nationalsozialismus anhingen und die Sprachlosigkeit, die darüber in den Familien geherrscht hatte. Die sehr hohen Verkaufszahlen einer 2016 erschienenen kommentierten Ausgabe von „Mein Kampf“ stützt nach Blum diese These. Die Anzahl ging weit über die Ankäufe von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen hinaus. Die Frage, warum Menschen, insbesondere jüngere Personen, rechtsgerichteten Parteien folgen, konnte nicht beantwortet werden.
Marianne Blum wird für ihre Auftritte regelmäßig angefeindet. Weder sie noch Thomas Linke sind jüdisch. Warum sie immer weitermacht, beschrieb sie in einem klaren Aufruf an das Publikum: „Wir können den Widerstand nicht nur den unterdrückten Minderheiten überlassen. Ich kann nicht anders als aufstehen!“ Das eindringliche Stück wird in Theatern und Schulen in ganz Deutschland aufgeführt. Ein Schüler fasste es so zusammen: „Ich habe schon einiges über die Geschichte des Nationalsozialismus gewusst, aber jetzt habe ich zum ersten Mal gefühlt, was es bedeutet.“ (ch)