Klaus Speck wollte erstmal allein sein. Wie Franz Beckenbauer 1990 nach dem Gewinn des WM-Titels im Wembley-Stadion lief er durch das Foyer der Stuttgarter Liederhalle und musste die Nachricht verarbeiten.
Gerade hatte er erfahren, dass „Selbstschutz und Selbstverteidigung - Team Hardt“ als vorbildliches Projekt den Nussbaum Jugend Award gewonnen hat. Jahrelange Arbeit, Herzblut, Präventionsarbeit unter Kindern und Jugendlichen – nun gebührend gewürdigt und wertgeschätzt. „Für uns war schon die Nominierung eine Auszeichnung“, freut sich der 62-Jährige noch immer; und hat dabei nicht seine eigene Leistung, sondern das ganze Team im Blick. Schließlich gab es den Jugendaward für die große Zahl an jungen Trainern, die zusammen das Zepter in der Hand halten – vom Vereinsvorstand bis zur Leitung des Trainings.
Alles begann 2007, als Speck mit seiner Frau Jutta eine Selbstverteidigungsgruppe gründete, die noch heute in Eggenstein-Leopoldshafen (Kreis Karlsruhe) trainiert. „Nach dem Ausstieg aus einer Sekte und den damit verbunden Repressalien habe ich jemanden kennengelernt, der diesen Sport macht“, erzählt Speck. Die Basis damals: Esdo (European Self defense organisation), eine Kombination aus Gesundheitssport und realistischer Selbstverteidigung, immer im Rahmen der geltenden Gesetze.
Jutta Specks Eltern waren Alkoholiker, sie wuchs in einem Kinderheim auf, erlebte dort täglich Gewalt. „Mädels durfte man nicht sehen und nicht hören“, erzählt die 61-Jährige. Die nächste Generation Jugendlicher will sie durch das Training vor diesen Erfahrungen bewahren. Ganz wichtig ist ihnen dabei der Gemeinschaftsgedanke. Kinder, die vor Jahren an Kursen teilnahmen, sind geblieben und nun ihrerseits Selbstverteidigungs-Trainer. Deren Entwicklung miterleben zu dürfen, sei ein Geschenk. So wie bei Frederik Fietz, 23 Jahre alt, der als Achtjähriger einstieg.
Seit 2011 gehört Team Hardt zum Verein Sportgruppe am KIT - Abteilung Aikido, unter dessen Dach mittlerweile nach einem anderen Konzept trainiert wird; „da Esdo ziemlich festgefahren und zu kostenintensiv ist“, so Fietz. 2019 vollzog die Gruppe einen Richtungswechsel, gründete zusammen mit Gleichgesinnten einen neuen Verband und verfolgt einen zeitgemäßen pädagogischen Ansatz.
„Damit begann der eigentliche Erfolg“, erklärt Klaus Speck. Prüfungskosten für Gürtel, die das Erlernte aufzeigen und ein wichtiger Schritt zu mehr Selbstbewusstsein sein können, bleiben somit im Rahmen, denn alle sollen sich diesen Sport leisten können. „Dadurch haben wir ein niederschwelligeres und gleichzeitig qualitativ höheres Angebot geschaffen“, führt Fietz weiter aus. Techniken und Herangehensweisen können demnach an aktuelle Herausforderungen und Angriffsmuster angepasst und weiterentwickelt werden; auch durch Kooperationen mit anderen Vereinen.
Der Hauptaspekt der Sportgruppe liegt auf der Selbstverteidigung von Angriffen, z.B. auf der Straße oder im ÖPNV. Daneben geht es um die Stärkung des Selbstbewusstseins sowie um Kommunikation und Deeskalation. Denn Selbstverteidigung habe viel mit Prävention zu tun, sagt Fietz. Entsprechende Strategien werden immer wieder durch das Nachstellen bestimmter Szenarien trainiert. So sieht jede Trainingseinheit anders aus, wobei der Spaß im Mittelpunkt stehen soll.
Dieses Wissen soll auch an die jüngere Generation weitergegeben werden. „Die Arbeit an den Schulen ist uns deshalb besonders wichtig“, ergänzt Maxim Judt, 18 Jahre alt und Teil des Trainerteams. Hier sei vor allem Mobbingprävention gefragt. Durch Rollenspiele wird vermittelt, wo Gewalt anfängt, dass sie sehr subjektiv empfunden wird und wie es sich anfühlt, mit Schlägen zu rechnen. Auch die Abwertung durch Beleidigungen ist ein Thema.
Viele Schüler fangen dann erst an, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Der Kontakt entsteht durch die Schulsozialarbeiter, die meist schon Schwierigkeiten in einer Klasse ausgemacht haben. „Oftmals wird erst gehandelt, wenn schon etwas passiert ist“, ergänzt Lehramtstudent Fietz. „Es ist teilweise beängstigend, was schon an Grundschulen abgeht.“ Zudem seien Lehrer nicht darin geschult, mit Mobbing richtig umzugehen oder Toleranz und Offenheit in einer Klasse zu fördern.
Im Verein selbst bietet Team Hardt Mobbingberatung und 1:1-Gespräche an, um Betroffenen aktiv zur Seite zu stehen. Hier werden sie ernst genommen, Strategien vorgeschlagen und Ratschläge gegeben.
Zurück zum wöchentlichen Training in der Hermann-Uebelhör-Halle Leopoldshafen: „Hier wollen wir die Generationslücke schließen, ohne dass es eine Rangordnung gibt“, sagt Judt. Konkret trainieren hier Jugendliche mit Erwachsenen, wobei der Gürtelgrad nichts aussage. „Wir kommunizieren immer auf Augenhöhe, haben Respekt voreinander und lernen voneinander.“ So wird die Selbstverteidigung vom Individualsport zum Teamsport. Das fängt bereits im Kindertraining bei den Fünfjährigen an, wo Techniken spielerisch vermittelt werden, und geht bis ins Rentenalter. Der älteste Teilnehmer ist über 70.
„Im Erwachsenenbereich haben wir noch viel Luft nach oben“, so Fietz. Neben drei Erwachsenen trainieren freitagabends vor allem Jugendliche. Die Kinderkurse werden hingegen gut besucht. „Die Hallenverfügbarkeit spielt hier auch eine große Rolle; das sind so die typischen Probleme der Vereine.“ Dagegen hat Team Hardt keine Nachwuchsprobleme im Bereich Trainer. Neben Fietz und Judt gehören Julijana Vidovic (18) und Finnegan Pfeifer (18) zum Team.
So können Klaus und Jutta Speck nach der „Krönung unserer Trainertätigkeit“ beruhigt der Jugend das Feld überlassen. Der Generationenwechsel ist vollzogen.
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