Ein aufmerksames Publikum verfolgte am 14. Mai in der Museumsscheuer den Besuch von sechs Jugendlichen und ihrem Lehrer Bernhard Edin aus der Realschule Obrigheim. Eingeladen hatten die Stolpersteininitiative Dossenheim, die katholische und evangelische Kirchengemeinde, der Jugendgemeinderat und der Freundeskreis der Gemeindebücherei. In kurzen Beiträgen vorgestellt und durch Nachfragen und Bemerkungen des Publikums lebhaft kommentiert wurde das Geschichtsprojekt „Vinzenz Rose – einer von uns“, mit dem die Geschichts-AG ganz unbeabsichtigt deutschlandweit Aufsehen erregt hatte. Und dies paradoxerweise dadurch, dass der Obrigheimer Gemeinderat im Mai letzten Jahres diskussions- und begründungslos in geheimer Abstimmung den Antrag abgelehnt hatte, wenigstens die namenlose Neckarbrücke zwischen Obrigheim und Mosbach-Diedesheim nach dem Sinto Vinzenz Rose zu benennen. Die ursprüngliche Absicht, die Realschule Obrigheim nach Vinzenz Rose zu benennen, hatte schon im Vorfeld keine Chance. Die erste und einzige Schule in der Bundesrepublik, die nach einem Angehörigen der Minderheit der Sinti und Roma benannt ist: Warum geht das nicht? Im Ort wurde jedenfalls massiv Stimmung gegen das Projekt gemacht, eine Contra-Unterschriftenliste zirkulierte und sowohl die Schulkonferenz und auch der Bürgermeister lehnten das Projekt ab.
Die Gäste aus Obrigheim stellten zunächst das Lebenswerk des Sinto Vinzenz Rose vor. Dieser kam aus einer Darmstädter Familie, die ein Kino betrieb und übers Land zog mit Filmvorführungen und schwungvollen Musikdarbietungen, in denen Vinzenz als Geiger und Sänger brillierte. Mit Beginn der NS-Herrschaft steigerten sich die immer schon bestehenden Vorbehalte und Schikanen gegen die „Zigeuner“ zu massiven staatlichen Repressionen, Vertreibungen und Vernichtungspraktiken. Die Roses flüchteten und versteckten sich jahrelang. Vinzenz und zahlreiche Familienmitglieder wurden schließlich festgenommen. Die Schüler*innen schilderten den dramatischen Lebensweg von Vinzenz Rose über das Lager Auschwitz, das dortige „Zigeunerlager“ in Birkenau, die Verbringung in das Lager Natzweiler im Elsass, wo er zu brandgefährlichen medizinischen Experimenten missbraucht wurde. Schließlich hatte er härteste Zwangsarbeit im KZ-Außenlager Neckarelz zu leisten – beim Stollenausbau in der Gipsgrube Obrigheim auf der gegenüberliegenden Neckarseite. Dorthin hatten seit 1944 die Daimler-Benz-Motorenwerke ihre Fabrik für Flugzeugmotoren verlagert. Mithilfe seines Bruders Oskar, einer Heidelberger Fluchthelferin und eines ukrainischen Lastwagenfahrers gelang Vinzenz als einem von vier Häftlingen die Flucht aus dem Lager. Er kam – wie sein Bruder – im Haus der Heidelberger Försterswitwe Maria Hübner unter.
In bewegenden Zitaten sprachen die Jugendlichen über die Schicksale der Sinti und Roma in der NS-Epoche, in der auch Roses Eltern, seine zweijährige Tochter und ein Großteil seiner Verwandten getötet wurden. Für die Jugendlichen stellte die Vertiefung in Roses Biographie eine nachhaltige Begegnung mit Geschichte dar, nicht zuletzt, weil Vinzenz Rose nach seiner Flucht und in den Nachkriegsjahrzehnten nicht gebrochen und verzweifelt reagierte oder sich ins Privatleben zurückzog. Mit ungeheurer Energie baute er mit seinem Bruder Oskar (nach der Erschießung eines Heidelberger Sinto durch einen Polizisten 1973) die Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma auf.
Es gelang ihm, die Anerkennung der getöteten und verfolgten Angehörigen (in ganz Europa waren dies 500.000 Menschen) als NS-Opfer zu erwirken. Hierzu gehören das Recht auf Entschädigung, die gesellschaftliche Anerkennung und die strafrechtliche Verfolgung der Täter. Zahlreiche Verbände der Sinti und Roma sowie das Dokumentationszentrum und die universitäre Forschungsstelle Antiziganismus in Heidelberg thematisieren inzwischen diese Verbrechen und die fortwährende Diskriminierung von Sinti und Roma in ganz Europa. Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, mahnte kürzlich in einer Erklärung, „dass es auch nach 50 Jahren historisch-politischer Arbeit des Zentralrats die deutsche Politik nicht erreicht hat, dass der Holocaust an den 500 000 Sinti und Roma im NS-besetzten Europa Teil der nationalen politischen Erinnerungskultur wurde“.
Umso befremdender und für die Jugendlichen unverständlich waren und sind die abwertenden, negativen, zum Teil auch von Hass geprägten Reaktionen ihrer Umwelt auf den Umbenennungsvorschlag für ihre Schule. Sie berichteten von negativen Kommentaren, bösen Verdächtigungen gegen ihre Arbeit und ihren Lehrer. Auch die Mutter einer Schülerin beschrieb die Reaktionen von Nachbarn und Mitbürgern. Bedrückung, Fassungslosigkeit und Entsetzen werden spürbar, wenn die plötzliche Sprachlosigkeit und Gesprächsverweigerung im Ort erwähnt wird. Lehrer Edin fasst diese Leerstelle, dieses Dunkelfeld zusammen: „Was sage ich diesen jungen Menschen, wenn sie fragen: Haben die was gegen Vinzenz Rose, haben die was gegen Sinti und Roma? Warum entscheiden die so? Ich kann dann nur sagen: Fragt sie! Aber sie bekommen keine Antwort. Die Leerstelle bleibt.“
Ratlosigkeit und Verwunderung bleiben. Kopfschütteln im Publikum, als die Jugendlichen schildern, wie im Gemeinderat zum ersten Mal in der Gemeindegeschichte Wahlkabinen aufgestellt wurden, um die Anträge der Vinzenz-Rose-Initiative in geheimer Abstimmung zu Fall zu bringen. Mit neun zu sieben Stimmen wurde der Antrag abgelehnt. Nur ein Gemeinderat offenbarte sich öffentlich. Er hat dafür gestimmt und schämt sich der Voten seiner Mitgemeinderäte.
Nicht minder bewegend war, wie intensiv die Schüler*innen und ihr engagierter Lehrer mit dem „Scheitern“ ihres Projekts umgehen. Bernhard Edin verwies auf die Formulierung des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der von der „List der Geschichte“ sprach. Denn der Misserfolg vor Ort brachte der Initiative Zuspruch und Anerkennung. Mehr, als sie bekommen hätte, wenn die Initiative erfolgreich gewesen wäre. Darunter ist ein Preis der Bundeszentrale für politische Bildung, die Teilnahme beim Staatsakt des Bundespräsidenten zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes, eine Einladung in den Deutschen Bundestag durch MdB Franziska Brandner und eine von Manfred Lautenschläger finanzierte Studienfahrt nach Auschwitz und Birkenau. Und nicht zuletzt eine von den Schüler*innen gestaltete Ausstellung: „Vinzenz Rose – (K)einer von uns …“, zu der die KZ-Gedenkstätte Neckarelz einen ausgezeichneten Katalog herausgegeben hat (ausleihbar in der Gemeindebücherei Dossenheim). Diesen hatten die Obrigheimer mitgebracht, er fand reges Interesse. Ebenso wie die berührenden Berichte der Schüler*innen und ihres Lehrers. „Wenn wir Erfolg gehabt hätten, wären wir jetzt nicht hier“, resümierte einer der Schüler. Wie gut, dass sie gekommen sind.
Text und Foto: Rainer Loos und Norbert Giovannini