„Ich spiele auf Konzerten eigentlich nur noch meine Lieblingsstücke. Das gönne ich mir im fortgeschrittenen Alter“, meint Pianist Thomas Scheytt nach seiner umjubelten Vorstellung gegenüber dem Wildbader Anzeiger. Am Samstagabend gastierte der Blues- und Boogie-Woogie-Spezialist erneut (nach 2024) im Großen Saal des Forums König-Karls-Bad. Wenn man wie der Freiburger Künstler über ein solch großes Repertoire an eigenen Stücken sowie Werken aus der Anfangszeit dieser Musik verfügt, kann man damit auch jederzeit ein abendfüllendes Solo-Programm bestreiten.
Blues ist eine vokale und instrumentale Musikform, die sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der afroamerikanischen Gesellschaft der USA entwickelt hat. Er ist eine Form der Klage und zeichnet sich durch eine melancholische und oft traurige Stimmung aus. Der Boogie-Woogie, dessen Stil innerhalb des Jazz angesiedelt ist, ist ein Solo-Klavierstil, der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ebenfalls in den USA entstand. In den späten 1920er Jahren entwickelte sich der Boogie-Woogie weiter, neben New Orleans wurde Chicago zur zweiten Hauptstadt dieser Musikrichtung und Pianisten wie Clarence ‚Pinetop‘ Smith und Jimmy Yancey legten den Grundstein dafür, dass diese Musik in den 1930er und 1940er Jahren über eine gewisse Zeit regelrecht boomte und zur Popmusik wurde. Als legendär gilt ein Konzert der drei zu jener Zeit berühmtesten Vertreter Albert Ammons, Pete Johnson und Meade Lux Lewis in der New Yorker Carnegie Hall, das die Zuhörer derart in Ekstase versetzte, dass – so Scheytt in seiner Moderation – die Türsteher am Ende einige Teilnehmer von den Kronleuchtern herunterbitten mussten, auf die sie vor lauter guter Laune geklettert sein sollen.
Mit der beschwingten Blues-Improvisation „Hallo, guten Abend liebe Freunde in Bad Wildbad“ begrüßte Scheytt die Zuschauer nach seiner ersten Ansage auch musikalisch. Die Entwicklung von Blues und später des Boogie Woogie haben laut Scheytt viel zu tun gehabt mit dem Bau und der Ausbreitung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert. Die Rhythmen spiegelten die Fahrt mit der Dampflok wider. So war es naheliegend, dass der Tastenkünstler ein eigenes Stück zu diesem Thema im Gepäck hatte. Der „Höllentalstopp“ beginnt mit einem intensiven, dumpfen Grollen, dann nimmt das Gefährt mit zunehmend vorantreibenden Akkorden Schwung auf und pendelt sich in stromlinienförmigen Melodiebögen ein. Die Zugfahrt führt durch Tunnel und über Kurven hinweg, hinauf zu den Schwarzwaldhöhen. Dazwischen muss die Lokomotive ordentlich schnaufen und stöhnen, bevor sie wieder in ruhiges Fahrwasser auf ebener Strecke gerät. Auch sein erster Boogie Woogie stammt aus eigener Feder und beschreibt sehr schön, was bei diesem speziellen Piano-Stil angesagt ist, nämlich „Flying Fingers“.
Der 1960 geborene Pfarrerssohn erhielt früh Klavier- und Orgelunterricht. Mit 16 Jahren sei er zum Blues gekommen, als er auf einer Schallplatte diese Musik zum ersten Mal gehört habe, berichtet Scheytt. Er habe dann in erster Linie über das Gehör die dargebotenen Stücke einstudiert, wobei insbesondere die Bassläufe eine besondere Herausforderung gewesen seien. Ein Beispiel aus dieser Zeit als Autodidakt folgt denn auch prompt mit dem Stück „Suitcase Blues“ von 1928. Und die Zuschauer spüren, dass der Rhythmus und die klassischen 12-Takt-Blues-Strukturen, die auf nur drei Akkorden basieren, dem Künstler in Fleisch und Blut übergegangen sind. Ein weiteres Originalwerk aus dem Jahr 1995, „You’ve got a friend in me“ von Randy Newman, hat der zweifache Gewinner des German Blues Award in einen Ragtime umgewandelt. Das Stück wurde zur Titelmelodie des Disney-Films „Toy Story“ und wirkt liedhaft und gefällig. In seine Heimatstadt Freiburg, direkt vor seine Haustür, entführt Scheytt die Zuschauer mit dem „Blumenstraßen-Express“, einem schwung- und effektvollen Boogie Woogie. Für seinen Kater hat Scheytt das Stück „Walking Cat“ geschrieben, welches lautmalerisch Bilder im Kopf erzeugt von einer leichtfüßig sich anschleichenden und genüsslich schnurrend, mal auch zum Sprung ansetzenden Katze.
Obwohl er das Orgelspiel während des Studiums aufgeben musste, habe er die Liebe zu diesem Instrument nie verloren, gesteht Scheytt. In dem eigenen Stück „Out of the dark“, einer Vertonung des Sonnenaufgangs, werden Anklänge an die Orgel lebendig. Das bedrohliche Dunkel der Nacht mit finster grummelndem Bass weicht zunehmend den mit hellen Anschlägen improvisierten Sonnenstrahlen des anbrechenden Morgens. Dazu passt dann auch die darauffolgende Eigenkomposition „Morning Dance“ mit ihren Zuversicht ausströmenden Klangbildern. Bis zur Ekstase treibt es der Pianist in seinem letzten Stück „Boogie Woogie Stopp“ von Albert Ammons, dem als Zugabe das langsamere, vom berühmten Sänger und Pianisten Ray Charles interpretierte „Georgia on my mind“ folgt.
Das Publikum kann sich dem Zauber seiner Musik nicht entziehen, klatscht immer wieder mit, wenn Scheytt kräftig in die Tasten langt, mit der linken Hand die Basslinien mit pulsierendem Rhythmus zum Schwingen bringt und gleichzeitig die rechte Hand zu einem dichten, reich ornamentierten Figurenwerk mit Trillern und Tremoli in die Höhen der Klaviatur schwingt. Zwischen rollendem Boogie Woogie, der mitunter wie ein Parforceritt auf einem wild gewordenen Gaul anmutet, nur dass Scheytt stets im Gleichschritt galoppiert, gibt es in seinen Bluesstücken immer wieder einfühlsame, berührende Momente, in denen er sich wie auf Samtpfoten über die Tasten bewegt. Stets ist der ganze Körper vom Scheitel bis zur Sohle in Aktion, seine in schwarzen Lackschuhen mit roten Schnürsenkeln gekleideten Füße wippen mit, alles vibriert unter dieser gänzlichen Hingabe an die Musik und an den Flügel. Scheytts Auftritt hätte mehr Zuschauer verdient, zeigten diese sich mit langanhaltendem Applaus doch tief beeindruckt. (kf)