Im Besitz einer Hohengehrener Familie befindet sich eine Fotografie aus längst vergangenen Tagen. Sie zeigt sechs gesetzt wirkende Herren im fortgeschrittenen Alter, die mit Anzug und Fliege gekleidet ernst in die Kamera schauen. Das Bild wurde im Atelier August Wilke in Chicago, 391 - 393 Blue Island Avenue, aufgenommen. Leider sind die Namen der Abgebildeten nicht vermerkt, so dass lediglich vermutet werden kann, dass zumindest einer der Herren aus der Schurwaldgemeinde stammen könnte, der in die sogenannte „Neue Welt“ ausgewandert war. Chicago liegt am Michigansee und ist eine bedeutende Handelsmetropole, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch für manchen Auswanderer aus Hohengehren und Baltmannsweiler zur neuen Heimat werden sollte.
Die Geschichte der Menschheit ist bekanntlich stets auch eine der Migration, eine Geschichte von Männern und Frauen, die sich aus unterschiedlichen Beweggründen irgendwo in der Welt ein für sie und meistens auch für ihre Angehörigen besseres Leben erhoffen und aufbauen wollen. Während heutzutage ja mehr Menschen (sehr oft als Flüchtlinge) nach Deutschland kommen als Deutsche in andere Staaten wegziehen, galt dieses Land in Mitteleuropa einst lange Zeit als Auswanderungsland. In den letzten drei Jahrhunderten verließen Millionen Deutsche ihre angestammte Heimat, darunter waren auch unzählige Menschen aus dem Süden und Südwesten. War ihr Ziel zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst Ost- und Südosteuropa, emigrierten ab den 1830er Jahren zunehmend Personen aus ländlichen Regionen nach Nordamerika, vor allem in die USA. Zuerst waren es insbesondere die über die Rheinschifffahrt gut angebundenen Badener. Die Motive für die Emigration so vieler Menschen aus dem Südwesten des damaligen Deutschen Bundes und späteren Kaiserreichs waren natürlich unterschiedlich. An erster Stelle stand sicherlich das Entkommen dieser Menschen aus Armut und geringen Erwerbschancen in ihrer bisherigen Umgebung. Das traf auch auf das damalige „Armenhaus“ Württemberg zu, in dem es bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts keine Industrialisierung gab und das unter den Folgen der jahrelangen Napoleonischen Kriege sowie mehrerer Missernten zu leiden hatte. Nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora östlich von Java (heutiges Indonesien) im Jahr 1815 folgte in Europa, aber auch im Nordosten Amerikas, das „Jahr ohne Sommer“ 1816, eine sogenannte Kleine Eiszeit. Zur Veranschaulichung mag folgender Vergleich dienen: Die freigesetzte Energie des größten Vulkanausbruchs der letzten Jahrtausende entsprach Schätzungen zufolge 170000 Hiroshima-Bomben. Mehr als 100000 Menschen starben auf den Inseln rund um den Tambora. Im 12000 Kilometer entfernten Württemberg folgten eine ungewöhnliche Kälte und Unwetter, und eine deshalb gering ausfallende Getreideernte führte zur schlimmsten Hungersnot seit dem Dreißigjährigen Krieg. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres 1817 kam es zu einem behördlich erlaubten Exodus von 17000 Menschen aus dem Königreich, damals zumeist noch nach Ost- und Südosteuropa, vereinzelt aber auch schon nach Nordamerika. Die Vereinigten Staaten, vermeintlich das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, wurden dann etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt das Ziel der Auswandernden. Diese erhofften sich in der neuen Heimat eine Verbesserung ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage, aber auch politische Gründe spielten eine Rolle: Man denke nur an die Jahre nach der Revolution 1848/49 in Baden, der Pfalz und Württemberg und an die Zeit der sogenannten „Sozialistengesetze“ im Kaiserreich ab 1878. Auch das besonders starke Bevölkerungswachstum jener Zeit verschärfte die prekäre Situation, nicht nur im deutschen Südwesten. Viele Hürden behinderten die damalige Migration. Vor allem die Ausreise war eingeschränkt und genehmigungspflichtig, das betraf insbesondere junge Männer, die der Militärpflicht unterlagen. Aber auch private Verpflichtungen, beispielsweise Schulden, waren ein Hinderungsgrund für Ausreisewillige. Lange galt Emigration als ein Männerphänomen, aber auch Frauen wanderten aus, so machten letztere zwischen 1880 und 1920 erstaunlicherweise zwischen 30 bis 50 Prozent der einreisenden Personen in die USA aus. Manche reisten mit ihrer Familie oder ihrem Ehemann, aber auch alleinstehende Frauen wagten zunehmend den abenteuerlichen Schritt in ein Dasein in der Fremde mit besseren Chancen und mehr Unabhängigkeit. Wer auswanderte, musste es sich schon damals leisten können. Viele der Emigrierenden wendeten bisweilen bis zur Hälfte ihres Jahresgehaltes für die oft gefährliche Reise auf. Im Laufe des 19. Jahrhunderts löste für die Überfahrt nach Amerika zunehmend das Dampfschiff das Segelschiff ab, und damit verringerte sich auch die Reise über den Atlantik erheblich: Während ein Segelschiff 44 Tage benötigte, schaffte es ein Dampfschiff in nur noch 14 Tagen. Mit der Einführung des regelmäßigen Linienverkehrs mit Dampfschiffen und der entsprechenden Werbung wuchsen auch die Auswandererzahlen deutlich. Auf diesen Schiffen waren die Passagiere in unterschiedliche Klassen unterteilt, entsprechend variierten sowohl die Bequemlichkeit als auch der Platz, der einer Person zur Verfügung stand. Ab den 1880er Jahren wurden die Bedingungen für die Einreise verschärft, und Personen wurden oft abgewiesen. Auswanderer nach New York kamen zunächst auf der Insel Ellis Island im Hafengebiet der Stadt an und wurden auf der dort 1892 eröffneten Immigrantensammelstelle kontrolliert, bevor sie an Land gehen durften. Der Ausbau und die stetige Verbesserung der Kommunikations- und Transportmittel erleichterten und verstärkten die Migration. Bereits Ausgewanderte konnten ihren Angehörigen in der Heimat per Post von dem Verlauf ihrer Reise, den Formalitäten im Aufnahmeland und der Situation vor Ort berichten. Das führte in der Folge nicht selten zur Auswanderung ganzer Familien und Gruppen. Das Thema Emigration vor mehr als 100 Jahren ist zumindest für Baltmannsweiler durch die im Jahre 1936 erschienene Ortsgeschichte des damaligen örtlichen Hauptlehrers und Funktionsträgers des NS-Regimes Albert Eberle einigermaßen dokumentiert. In unregelmäßiger Folge sollen nun in nächster Zeit einige jener Personen beiderlei Geschlechts in Kurzbiografien vorgestellt werden, die im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dem Nachbardorf Hohengehren den Rücken kehrten und deren Ziel fast ausschließlich Nordamerika war. Dank vorhandener Zeitdokumente und auch intensiver Internetrecherche weiß man heute selbst nach so langer Zeit noch etwas über ihr Leben in der alten wie in der neuen Heimat. Vielleicht werden dann manchem heute Lebenden auch Parallelen zwischen heute und damals erkennbar, so dass ihm die Zeitlosigkeit des Phänomens Migration bewusst wird. Sofern Einwohnerinnen und Einwohner beider Gemeinden noch Unterlagen zu einst ausgewanderten Familienangehörigen besitzen, mögen sie bitte diese Zeitdokumente dem Heimat- und Geschichtsverein vorübergehend zur Verfügung stellen. Sie werden dann eventuell für weitere Beiträge in den „Dorfnachrichten“ verwendet. Text: Alfred Hottenträger