„Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft trat, lag Deutschland in mehrfacher Hinsicht in Trümmern“, sagt Jörg Winter. „Die Städte waren zerstört. Die Grundlagen einer zivilisatorischen Staats- und Gesellschaftsordnung auch. Staatliche Strukturen waren ersetzt durch die Regierungsgewalt der Besatzungsmächte.“
Jörg Winter ist Professor für Staatskirchen- und Kirchenrecht. Er spricht bei junge alte im Rahmen der Evangelischen Erwachsenenbildung im Gemeindezentrum Am Zwinger über „Die normative Kraft der Verfassung - 75 Jahre Grundgesetz(GG)“.
„Die Ministerpräsidenten wurden im Februar 1948 von den Militärgouverneuren der westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich ermächtigt, die Gründung eines deutschen Zentralstaates vorzubereiten“, so Jörg Winter weiter. „Sie beschlossen jedoch nicht eine Verfassung für einen Staat in Westdeutschland, sondern ein Organisationsstatut mit dem Namen Grundgesetz für die drei Zonen im Verwaltungsgebiet Westdeutschland. Es sollte gelten, bis das deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschließt.“
Das wäre 1990 möglich gewesen, sei jedoch nicht durchgeführt worden. Stattdessen sei die DDR, die ehemalige vierte, östliche Zone, der Bundesrepublik nach Artikel 23 GG beigetreten. Name und das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik Deutschlands seien erhalten geblieben. „Das wird häufig als Verfassungsbruch gesehen, da das Volk nicht selbst über die Einheit und eine gemeinsame Verfassung bestimmt hat“, so der Referent. „Man hat versäumt, sich in Ost und West bewusst zu machen, dass die beiden Teile nicht nur zusammengelegt werden, sondern dass ein neues Staatswesen als gemeinsame Aufgabe entsteht.“
Das Grundgesetz wolle Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik ziehen und den Rechtsmissbrauch durch den nationalsozialistischen Staat verhindern. „Das Bundesverfassungsgericht sorgt dafür, dass sich die politische und gesellschaftliche Realität nicht zu sehr von den normativen Vorgaben der Verfassung entfernt“, erklärt Jörg Winter. Schon in mehreren Urteilen habe das Bundesverfassungsgericht die Politik in die vom Grundgesetz gezogenen Schranken verwiesen. Wie in einem Rechtsstaat üblich habe sich die Regierung an die Urteile gehalten. Wichtig sei also, den politischen Zugriff auf die Justiz zu behindern.
Der Artikel 1 GG, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, stelle den Menschen und seine Rechtsposition in den Mittelpunkt. Der Staat müsse dafür sorgen, dass staatliche und außerstaatliche Kräfte die Menschenwürde nicht verletzen. Nun sei jedoch nicht nur in Deutschland die Demokratie in einer Krise. „Wir müssen uns daran erinnern, wie die zivilisatorische Gesellschaft zusammengebrochen ist und welche vom Staat gelenkten Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nationalsozialismus ausgeführt wurden“, sagt Jörg Winter. Eine solche Situation drohe auch heute, wenn für eine nationale Identität Menschen fremdländischer Art aus Deutschland vertrieben werden sollen oder Deutschland für Freiheit und Frieden kriegstüchtig werden solle.
Auch habe das Grundgesetz naturgemäß keine Antwort auf die Verbreitung von Lügen, Verschwörungstheorien, Hass und Hetze im Internet und anderen modernen Kommunikationsmitteln. „Auch deshalb müssen die öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Sender erhalten bleiben“, sagt Jörg Winter. „Wir müssen an der Wahlurne und mit Zivilcourage im Alltag dafür sorgen, dass keine Partei an die Macht kommt, die sich nicht vorbehaltlos mit den humanitären Grundwerten und den demokratischen Spielregeln des Grundgesetzes identifiziert.“ (rist)