Wir gehen zurück ins Weingarten kurz vor der Jahrtausendwende. Einstimmig hatte der Gemeinderat die Beseitigung des schienengleichen Bahnübergangs bei der Kärcherhalle beschlossen.
Gleichzeitig diskutierte man im Gremium intensiv über die Optimierung der verschiedensten Verkehrsbeziehungen von Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern.
So war zum Beispiel die ortsseitige bahnparallele Fußgängerbrücke in der ursprünglichen Konzeption nicht vorgesehen, wurde jedoch im Verlauf der Beratungen mehrheitlich beschlossen und erfreut sich heute einer intensiven Nutzung. Auch die Vorfahrtsregelung an der Einmündung der Neuen Bahnhofstraße in die Bahnhofstraße wurde intensiv diskutiert, und man entschied sich letztendlich für die heutige Lösung der durchgehenden Vorfahrt für die Achse vom Kernort in die Waldbrücke.
Die Entscheidungen über technische Details und die Art der Bauausführung fanden jedoch nicht im Weingartener Bürgersaal, sondern in den Büros der verschiedensten an der Planung beteiligten Ingenieure statt. Völlig klar war, dass die Unterführung nur bei laufendem Bahnbetrieb verwirklicht werden konnte. Eine Vollsperrung der stark frequentierten Strecke für den Schienenverkehr war ausgeschlossen, es kamen lediglich Sperrzeiten bis zu maximal neun Stunden und eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70 km/h infrage. Doch wie realisiert man ein Tunnelbauwerk unter einer Bahnlinie, über die nach wie vor tonnenschwere Züge rollen müssen?
Ein bewährtes Verfahren stellte die Herstellung des eigentlichen Baukörpers seitlich der zu unterführenden Bahnlinie und anschließendes hydraulisches Verpressen dar. Nach dem Motto „Verschieben kann man grundsätzlich alles, es ist nur eine Frage der Kraft“ wurde in einer waldbrückenseitigen Baugrube das eigentliche zentrale Element der Unterführung in einer durch Spundwände gesicherten Baugrube in Stahlbetonbauweise gefertigt. Vier Pressen mit einer Gesamtschubkraft von ca. 3000 Tonnen sollten anschließend den vorgefertigten Tunnel unter die Gleise schieben.
Schwierige Untergrund- und beengte Platzverhältnisse ließen jedoch die Stabilisierung des Gleiskörpers im bewährten Schwellenersatzträgerverfahren nicht zu. Aus diesem Grund wurde in Weingarten das aufwendige und damit teure sogenannte „Feste Fahrbahn Frostplatte“-Verfahren angewandt. Hierzu wurde der Untergrund bis zu einer Tiefe von 1,75 Metern vereist, indem man flüssigen Stickstoff mit einer Ausgangstemperatur von -196 Grad durch ein vorab hergestelltes Kühlsystem leitete. Nach einer Woche Gefrierzeit lag die Bodentemperatur zwischen -15 und -40 Grad Celsius, und der Untergrund war damit stabil genug für die Aufnahme der beim Verschieben des Rahmenelements auftretenden Kräfte.
Daran anschließend wurde während „natürlicher Zugpausen“, also im laufenden Betrieb, verpresst. Drei bis fünf Zentimeter pro Minute bewegte sich dabei das gigantische Bauteil in die gewünschte Richtung, und damit konnte pro Schubvorgang eine Distanz von 30 bis 60 Zentimetern zurückgelegt werden.
Nachdem der Rahmen der Bahnunterführung an der vorberechneten Stelle positioniert war, begannen die abschließenden Ausbauarbeiten. Fertig hergestellt war die Bahnunterführung bei der Kärcherhalle zum Jahresende 2001. Die feierliche Einweihung und Öffnung für den Verkehr fand am Samstag, 1. Dezember, im Beisein der Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss und Axel Fischer, der Regierungspräsidentin Gerlinde Hämmerle, des Landtagsabgeordneten Franz Wieser, des Landrats Claus Kretz und von Bürgermeister Klaus-Dieter Scholz statt. 1.500 Besucher aus Weingarten und der Region waren zu der winterlichen Festveranstaltung gekommen. Danach durfte der Verkehr ungehindert und ohne Wartezeiten von Ost nach West und in Gegenrichtung fließen.
Niemand vermag genau zu sagen, wie viele Fahrzeuge, Fahrräder und Fußgänger in diesem Vierteljahrhundert die Bahnunterführung passiert haben. Festhalten kann man jedoch, dass die Gewöhnung an die nur 2, 90 Meter hohe Pkw-Unterführung für manche Verkehrsteilnehmer ein schwieriger und teilweise schmerzhafter Lernprozess war. Auch nach 25 Jahren werden die an beiden Abfahrten angebrachten Höhenbegrenzer mindestens jeden Monat durch ortsunkundige oder allzu leichtsinnige Fahrzeugführer kalt verformt – eine regelmäßig wiederkehrende Instandsetzungsaufgabe für die Mitarbeiter unseres örtlichen Bauhofs.
Wer lesen kann und wer vor allem die Außenmaße seines Fahrzeugs kennt, ist beim Passieren unserer Kärcherhallenunterführung klar im Vorteil. Unbestritten ist jedenfalls die verbindende Funktion dieses Ingenieurbauwerks für den Ortskern von Weingarten und die Siedlung Waldbrücke. Die Einwohner der beiden Ortsteile sind sich in dem vergangenen Vierteljahrhundert im wahrsten Wortsinn ein kleines Stück nähergekommen – vielleicht ein Grund, im kommenden Jubiläumsjahr kurz innezuhalten und Rückschau zu halten auf eine über lange Zeit geführte Diskussion und auf ein Resultat, das die Entwicklung unserer Gemeinde maßgeblich mitgeprägt hat. (gö)