Jetzt, wo die Bäume ihr Laub verlieren, kann man sie wieder entdecken: die Misteln. Was im Sommer vom dichten Grün verborgen blieb, wird nun wieder sichtbar. Runde, helle Polster, die sich in Astgabeln oder an den Enden älterer Triebe festgesetzt haben. Für manche wirken sie geheimnisvoll, ja beinahe romantisch. In alten Bräuchen galten Misteln als Glücksbringer, in der Weihnachtszeit schmücken sie Haus und Türrahmen. Doch hinter diesem freundlichen Image verbirgt sich ein ernsteres Thema, das die Obstgärtner zunehmend beschäftigt.
Die Mistel ist ein Halbschmarotzer. Sie betreibt zwar Photosynthese, entzieht ihrem Wirt aber Wasser und Nährstoffe. Befällt sie schwache oder ältere Bäume, kann das auf Dauer gravierende Folgen haben. Besonders Apfelbäume, Linden und Pappeln sind betroffen, und gerade in unseren Streuobstbeständen breitet sich die Mistel in den letzten Jahren rasant aus. In milden Wintern reifen ihre Beeren ungestört, und die Vögel, vor allem Drosseln, verbreiten die klebrigen Samen weit über die Landschaft.
Dass die Mistel derzeit vielerorts zur Plage wird, ist kein Zufall. Unsere Bäume stehen unter Stress: Hitze, Trockenheit und Bodenverdichtung schwächen ihre Abwehrkräfte. Wo früher regelmäßige Pflege stattfand (Schnitt, Verjüngung, Nachpflanzung) herrscht heute oft Stillstand. In diesem Milieu kann sich die Mistel ungehindert ausbreiten. Was aus der Ferne nach winterlichem Schmuck aussieht, ist im Grunde ein ernstzunehmendes Symptom, ein sichtbares Zeichen dafür, dass die ökologische Balance aus dem Lot geraten ist.
Die Frage ist also nicht nur, wie wir die Mistel bekämpfen, sondern warum sie sich so wohlfühlt. Wo die Pflege alter Bäume vernachlässigt wird, wo Streuobstwiesen ohne Nachfolge bleiben, verlieren wir das Gleichgewicht in unserer Kulturlandschaft. Die wuchernden Misteln erinnern uns hier auf deutliche Weise daran.
Natürlich lässt sich ein Befall eindämmen. Befallene Äste sollten bis ins gesunde Holz zurückgeschnitten und die Schnittstellen sauber ausgeführt werden. Doch die nachhaltige Lösung liegt nicht allein in der Schere, sondern in der Fürsorge: in der Wiederbelebung unserer Obstgärten, in Neupflanzungen junger Bäume, in einem wachsamen, fachkundigen Blick auf das Ganze. Und auch im Privatgarten, wo ein einzelner Mistelbusch zunächst harmlos erscheint, ist Achtsamkeit gefragt. Jede Frucht trägt klebrige Samen, die von Vögeln weitergetragen werden. Wer sie nicht entfernt, unterstützt ungewollt ihre Ausbreitung. Ein geschärfter Blick und gemeinsames Handeln können helfen, die Ausbreitung einzudämmen und unsere Baumlandschaften gesund zu erhalten.
Eure OGV-Gartenfreundin