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„Wenn sie ihn doch nur zerrissen hätte.“

Dieser Satz entfuhr dem 17-jährigen Wolfgang Wacker, als ihm der gescheiterte Attentatsversuch Claus Schenk Graf von Stauffenbergs auf Adolf Hitler am...
Wolfgang Wacker als Luftwaffenhelfer
Wolfgang Wacker als LuftwaffenhelferFoto: Familienarchiv Wacker

Dieser Satz entfuhr dem 17-jährigen Wolfgang Wacker, als ihm der gescheiterte Attentatsversuch Claus Schenk Graf von Stauffenbergs auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 mittels einer Bombe bekannt wurde. Das war eine in jenen Tagen überaus mutige Äußerung, die das Leben kosten konnte. Der am 6. März 1927 in Stuttgart geborene Sohn des Baltmannsweiler Pfarrers Erwin Wacker war (wie damals üblich) Mitglied in der Hitlerjugend und besuchte die Esslinger Georgii-Oberschule. Seit Mitte Februar 1943 war er einer der knapp 80 Schüler aus dieser Lehranstalt und der benachbarten Schelztor-Oberschule, die in der Flakstellung im Stadtteil Sulzgries Dienst taten. Heranwachsende, halbe Kinder noch, sollten mithelfen, die drohende militärische Niederlage des Großdeutschen Reichs zu verhindern, in Wirklichkeit aber lediglich zu verzögern. Schon längst hatten nämlich die Allliierten die Lufthoheit errungen, und ab 1943 steigerten sich die Bombardierungen der deutschen Städte infolge der Präzisionsangriffe US-amerikanischer Langstreckenbomber bei Tag und der britischen Flächenbombardements bei Nacht. Die Gegenwehr durch die deutsche Flugabwehr oder Jagdflugzeuge war nicht nennenswert.

Wackers Äußerung wurde in der Flakstellung bekannt, und ein fanatischer Hitlerjunge denunzierte ihn bei dem Batteriechef. Kameraden Wackers wurden als Zeugen verhört, Befragungen von Lehrern sind hingegen nicht überliefert. Für den 17-Jährigen begann eine schlimme Zeit des Wartens und der Angst, denn er wusste wohl über Keller der Geheimen Staatspolizei, Folterungen und Konzentrationslager einigermaßen Bescheid, weil sein Vater der „Bekennenden Kirche“ nahestand. Vor allem fürchtete der Heranwachsende, einer Folter nicht standzuhalten und andere Personen mit hineinzuziehen. Immerhin war der Pfarrer Wacker schon zum zweiten Mal als Kriegsstellvertreter in andere Gemeinden versetzt worden, weil die örtlichen Parteidienststellen in der Schurwaldgemeinde offenbar seine Verhaftung betrieben. Zudem war einer seiner Stubengenossen in Sulzgries Hans Schmidt, Sohn des Pfarrers an der Esslinger Südkirche und Mitglieds der Württembergischen Pfarrhauskette. Während des Kriegs hielten sich längere Zeit untergetauchte jüdische Menschen im Esslinger Pfarrhaus auf.

Das Baltmannsweiler Pfarrersehepaar bangte um das einzige Kind, das nach Drohungen des Batteriechefs um sein Leben fürchtete und sogar Flucht- und Selbstmordgedanken gehegt haben soll. Schließlich wurde gegen den jungen Mann Anklage wegen Wehrkraftzersetzung vor dem Kriegsgericht erhoben. Doch der junge Luftwaffenhelfer hatte Glück im Unglück, denn der für seinen Fall zuständige Kriegsgerichtsrat Klumpp war kein „furchtbarer Jurist“. Offenbar hatte Wackers Fall ursprünglich sogar beim Sondergericht in Stuttgart mit dessen berüchtigtem vorsitzenden Richter Hermann Cuhorst anhängig gemacht werden sollen. Der überzeugte Nationalsozialist Cuhorst hatte während seiner Tätigkeit bei besagtem Gericht etwa 120 Todesurteile verkündet, auch wegen geringfügigster Vergehen.

Der Flakhelfer versuchte mit einer kühnen Interpretation seiner Äußerung über das Attentat seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und erklärte dem Kriegsgerichtsrat, er, Wacker, habe mit „ihn“ natürlich nicht den „Führer“, sondern den Attentäter gemeint. Klumpp ließ sich tatsächlich auf diese Deutung ein, hielt dem Angeklagten aber weitere Aussagen seiner Mitschüler vor. Diese hatten bei den strengen Verhören offenbart, dass Wacker im Sommer 1944 mit Kameraden das Zurückweichen an der Ostfront und die wirtschaftliche und militärische Kraft der USA erörtert habe. Der Oberschüler war überzeugt, sein Leben dem Mut des Kriegsgerichtsrats verdankt zu haben. Dieser hatte wohl den Fall bis in den November 1944 verschleppt und die Akten „gut aufbewahrt“. Dem 17-Jährigen kam sicherlich auch eine erstaunliche Fügung zugute: In dem Verhör fragte ihn Klumpp nach einer längeren Pause, ob er, Wacker, mit dem Geheimen Kriegsrat Christian Wacker verwandt sei. Der Gefragte erwiderte, dass sei sein Großvater gewesen. Es stellte sich heraus, dass Klumpp Referendar bei ihm gewesen war.

Nach Kriegsende holte Wacker, nur im Besitz einer „Notreifeprüfung“, noch ein „richtiges“ Abitur nach, studierte an der Tübinger Universität Geschichte und wählte den Beruf des Schullehrers. Er heiratete und promovierte neben seiner Lehrertätigkeit. Als Schulleiter in Welzheim baute er das dortige ursprünglich kleine Progymnasium zu einem Vollgymnasium aus und bewarb sich dann erfolgreich um die Rektorenstelle am Progymnasium in Beilstein (Landkreis Heilbronn). Unter seiner Leitung entwickelte sich auch diese Lehranstalt zu einem Vollgymnasium, dem heutigen Herzog-Christoph-Gymnasium. Der dreifache Familienvater starb am 2. Dezember 2002 im Alter von 75 Jahren und fand seine letzte Ruhestätte im Familiengrab auf dem Stuttgarter Fangelsbachfriedhof.

Für den ehemaligen Schüler der Esslinger Georgii-Oberschule waren jene Tage und Wochen in der zweiten Jahreshälfte 1944 offenbar die „bedrückendste Zeit“ seines Lebens, die er dann Jahrzehnte lang „schmerzlich“ verdrängte. Das lebenslange Trauma (ausgelöst durch den Verrat von Mitschülern) bereitete auch seiner Familie schwierige Tage. Erst nach seinem Tod bekam sie einen tieferen Einblick in die seelischen Verwundungen des Verstorbenen, als sie von einem handschriftlichen Brief des Gatten und Vaters erfuhr, den er 1997 an zwei ehemalige Klassenkameraden bzw. Luftwaffenhelfer in Esslingen gerichtet hatte.

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26.07.2024
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