Dieser Spruch „Warum weiterleben, wenn Du für 100 Dollar begraben werden kannst“ soll vom Psychoanalytiker Sigmund Freud stammen und an einer Wand seiner britischen Exilpraxis gehangen haben. Vor allem amerikanische Patientinnen und Patienten seien darüber schockiert gewesen. Optimismus und Positivismus waren damals Pflicht. Vielleicht stimmt die Geschichte, vielleicht ist es nur eine Anekdote oder eine Art Märchen. Der Ausspruch passt sehr gut auch in unsere deprimierte und sich selbst ergebende, quälerische Zeit ohne Antworten und Standing. Warum Kultur erhalten, ihre Symbole und Lieder, schließlich kostet es weniger als 100 Dollar, einen Verein einfach „über die Wupper gehen“ zu lassen. Warum die Mühe, wozu die Schinderei, wozu dem Zeitgeist widerstehen? Die Antwort gibt uns der amerikanische Dichter Walt Whitman, der einem größeren deutschen Publikum 1989 durch seine Zitate im Film „Der Club der toten Dichter“ (mit Robbie Williams) bekannt wurde: „Damit das Leben weitergeht …. Und DU Deinen Vers dazu beitragen kannst“. Was für einen Vers denn? Für den französischen Schriftsteller Albert Camus befindet sich der Mensch in einer absurden Situation. Das Absurde besteht in dem Spannungsverhältnis zwischen der Sinnwidrigkeit der Welt einerseits und der Sehnsucht des Menschen nach einem Sinn bzw. sinnvollem Handeln. Welche Konsequenzen sind aus dieser Situation „ohne Hoffnung“ zu ziehen? In seinem Buch „Mythos des Sisyphos“ analysiert Camus im ersten Hauptteil sehr ausführlich die Widersprüchlichkeit des durch die Absurdität begründeten Suizides. Den Suizid als Tat lehnt er ab. Dann nimmt er sich zahlreiche intellektuelle Denker vor, die die Absurdität der menschlichen Situation erkannt haben, insbesondere Existenzphilosophen wie Heidegger und Nietzsche, aber auch Schriftsteller wie Kafka. Allerdings hätten diese Denker und Romanfiguren die falschen Konsequenzen gezogen, indem sie der Absurdität durch einen Sprung in andere Welten entfliehen wollten, anstatt bei klarem Verstand zu bleiben. Dieser Sprung besteht in der Zuflucht zu esoterischen, ästhetischen, religiösen, nationalistischen oder sozialistischen, also extremen Rettungsangeboten. Das kommt uns sicher bekannt vor, oder? Wenn wir uns das romantische Liedgut des 19. Jahrhunderts ansehen, so können wir diesen irrationalen Sprung auch dort sehen. Die Flucht in die Natur als Rettung vor der Wirklichkeit. Eichendorff z. B. Die Wirklichkeit sei, dass es mglw. keinen Sinn in der menschlichen Existenz gäbe. Keine Gerechtigkeit, schon gar keine ausgleichende, keinen obersten Richter. Wir kommen ins Leben und wir gehen wieder. Teil 2 folgt unten.
Ingo Kuntermann