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Eine bewegende Geschichte

Wie Muhammad aus Pakistan nach Wiesloch flüchtete

Muhammad Y. lebt nach seiner Flucht aus Pakistan seit 2016 in Deutschland, inzwischen in Wiesloch. Ein Blick auf seine bewegende Geschichte.
Hüfte eines Mannes, in der Jeans steckt eine Pistole.
Muhammads Vater wurde von Männern einer radikal-islamischen Gruppe getötet.Foto: koi88/iStock/Thinkstock

Muhammad Y. ist heute 24 Jahre alt und lebt nach seiner Flucht aus Pakistan seit 2016 in Deutschland. Schreckliche Erlebnisse zwangen ihn, sein Heimatland zu verlassen, doch schon unterwegs und später auch in Deutschland ist er immer wieder Menschen begegnet, die ihm geholfen habe. Dafür ist er sehr dankbar und deshalb möchte er seine Geschichte erzählen.

Muhammad wurde 2001 in einem kleinen Dorf im Kaschmir-Gebirge als ältestes von drei Kindern geboren. Die Eltern hatten einen kleinen Bauernhof mit zwei Büffeln, Ziegen und Hühnern, bestellten ihre Felder und Gärten. Die Erzeugnisse boten sie auf dem Markt an und konnten dafür Kleidung, Zucker und Salz kaufen.

Kindheit

Schon kurz nachdem die Eltern 1999 geheiratet und in das Dorf gezogen waren, wurde die Familie angefeindet, da die Mutter Muslimin und der Vater Christ war. Die drei Kinder, darunter eine Schwester, wussten das nicht, auch nicht, dass sie getauft sind. Sie gingen acht Jahre lang jeden Werktag von acht bis vierzehn Uhr in die Dorfschule. Muhammad danach noch in die neunte und zehnte Klasse einer weiterführenden Schule in der benachbarten Stadt. Es war für ihn eine behütete und glückliche Zeit.

Angriff auf die Familie

Das änderte sich schlagartig, als 2012 maskierte Männer einer radikal-islamischen Gruppe in ihr Haus eindrangen, wild um sich schossen und den Vater töteten. Als sie die anderen Familienmitglieder im Haus entdeckten, schossen sie dem flüchtenden Bruder ins Bein, prügelten Muhammad so schwer, dass seine Nase brach, und misshandelten die Mutter schwer. Die Männer hörten erst auf, als die Nachbarn die Polizei zu Hilfe riefen.

Tief verängstigt mussten die Kinder ihrer Mutter die Formel „Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Gesandter“ mit „Überzeugung“ nachsprechen, damit waren sie zum Islam übergetreten. Die Mutter zog mit den Kindern in die nächstgrößere Stadt. Da sie schwer traumatisiert und arbeitsunfähig war, lebte sie eineinhalb Jahre von ihren Ersparnissen. Danach fand sie Arbeit in einer Klinik. Trotz des Umzugs kamen nachts Drohanrufe und alle hatten Todesangst. Als die Mutter den Bauernhof verkaufen wollte, wurde es ihr unter Prügel verboten. In ihrer Not übergab sie alles einem Schleuser, der dafür die organisierte Flucht nach Deutschland zusagte.

Die Flucht beginnt

Ende 2015 begann die abenteuerliche Reise. Ein Bus brachte sie an die persische Grenze, die sie legal passieren konnten. Inzwischen war die Gruppe auf 30 Personen unterschiedlicher Nationalität angewachsen. Sie wurden jeweils zu zehnt in kleine Pkw gequetscht, teilweise auch in den Kofferraum, dann ging es nach Westen zur türkischen Grenze. Diese überwanden sie mit schwerem Gepäck in einem zehnstündigen Fußmarsch durch verschneites, unwegsames Gelände. Muhammad fiel einen Abhang hinunter und verletzte sich an der Hand, die stark blutete und schmerzte. Doch es gab unterwegs keine medizinische Versorgung, auch nicht bei hohem Fieber.

Fahrt übers Meer

In der Türkei wurde die Familie in einer kleinen Wohnung bei Istanbul untergebracht und mit Nahrungsmitteln versorgt. Nach zwei Tagen musste sie ein bereits vollkommen überfülltes Schlauchboot besteigen, das Steuer übernahm ein willkürlich herausgegriffener Passagier. Kurze Zeit später bemerkten die Flüchtlinge, dass Wasser ins Boot eindrang und die Motorschraube gegen die Außenwand schlug. Zum Glück war zufällig ein erfahrener Bootsführer an Bord, der das Kommando übernahm. Er wies die Flüchtlinge an, alles nicht Notwendige über Bord zu werfen, auch Kleidung und Rucksäcke. So erreichten sie gerade noch eine nahe gelegene griechische Insel. Die Polizei brachte sie in ein Lager, dort wurden sie mit dem Nötigsten versorgt und auch von den Einheimischen freundlich empfangen. Mit einem großen Schiff fuhren sie zunächst in die Nähe von Athen, dann nach Saloniki. Von da ging die Reise über Mazedonien nach Serbien. Um nicht zurückgeschickt zu werden, gaben sich die Flüchtlinge auf Anweisung der Schlepper in Griechenland als Syrer, in Serbien als Nichtaraber aus. Ohne Pässe, die sie mit dem Gepäck verloren hatten, konnte dies auch niemand in Frage stellen.

Zwischenstopp: Flüchtlingslager

Nach einem achtstündigen Fußmarsch kamen sie an die ungarische Grenze und mussten zwei Nächte im Freien und ohne Verpflegung ausharren, bis sie durch ein von Führern vorbereitetes Loch schlüpfen konnten. Auf der anderen Seite wartete jedoch schon die Polizei und brachte sie in ein Lager. Unterkunft und Verpflegung waren gut, und der gebrochene Arm der Mutter wurde in einem ungarischen Krankenhaus fachgerecht operiert. Die Familie konnte einige Zeit später, wieder durch Schlepper betreut, ungehindert das Lager verlassen und fuhr mit Bahn und Pkw über Österreich nach Passau. Im dortigen Lager wurde sie gut versorgt und durfte es tagsüber auch verlassen. Bei den Verhören übersetzten Dolmetscher, sodass Muhammad jetzt über seine Identität die Wahrheit sagen musste.

Ankunft in Wiesloch

Über Lager in München und Ellwangen kam die Familie schließlich nach Wiesloch, wo er und seine Geschwister zur Schule gehen konnten. Sie hatten anfangs große Schwierigkeiten. Zum einen durch die fehlenden Deutschkenntnisse, zum anderen durch den ganz anderen Unterrichtsstil. In Pakistan bestand die Vermittlung des Unterrichtsstoffs, auch der englischen Sprache, lediglich aus Auswendiglernen. Fragen und Diskussionen waren nicht üblich, bei kleinsten „Verfehlungen“ wurde geprügelt und gedemütigt.

Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte einen Schutzstatus für die Familie ab, mit der Begründung, dass sie sich innerhalb Pakistans der Verfolgung hätte entziehen können. Glücklicherweise vermittelte ihnen ein ehrenamtlicher Betreuer eine pakistanisch-stämmige Rechtsanwältin, die nachweisen konnte, dass es für die Familie in ganz Pakistan keinen sicheren Zufluchtsort gäbe. Sie setzte damit einen Abschiebeschutz und eine Aufenthaltsgenehmigung durch.

Geldprobleme

Muhammad holte den deutschen Hauptschulabschluss nach und begann eine Lehre in einem Lebensmittelmarkt, sein Arbeitgeber war mit ihm sehr zufrieden. Da lernte er auf dem Handy das Portal TikTok und eine Community an Internet-Freunden kennen, mit denen er sich rege austauschte und, um Anerkennung zu gewinnen, an sie „Goldmünzen“ verteilte. Bald musste er feststellen, dass er in einem Schneeballsystem gefangen war. Ein „Freund“ ermunterte ihn, seine Geldprobleme durch den Griff in die Ladenkasse zu lösen. Der ermittelnde Kriminalbeamte sagte ihm den Diebstahl auf den Kopf zu, meinte aber, dass er doch ein ordentlicher Junge sei. Wenn er die Tat gestehe, sehe er, was er für ihn tun könne. Am Ende schrieb der Beamte einen günstigen Bericht, der Arbeitgeber verzichtete auf eine Anzeige und die Richterin stellte das Verfahren gegen eine Auflage von 60 Sozialstunden ein. Natürlich musste er den Schaden wiedergutmachen.

Dankbarkeit

Die Lehre als Einzelhandelskaufmann hatte er noch kurz vor der Tat beendet, so fand er bald wieder Arbeit. Heute weiß Muhammad, dass ihm bei einem anderen Urteil die Abschiebung gedroht hätte. Er ist den vielen Menschen unendlich dankbar, die ihm vertraut und geholfen haben, und er kann nicht mehr verstehen, wie er sich zu der Tat hinreißen ließ. Er möchte gerne ein Bürger Deutschlands werden – einem gerechten Land, in dem jeder unbehelligt seine Religion ausüben kann.

Dass die Geschichte von Mohammad und seinen Geschwistern gut ausgegangen ist und sich alle drei erfolgreich integriert haben, ist ganz wesentlich der Begleitung durch Ehrenamtliche der Wieslocher Bürgerstiftung und der verständnisvollen Förderung durch die örtliche Werkrealschule zu verdanken. (aot)

Christen in Pakistan

Pakistan ist ein islamisches Land mit 207 Millionen Einwohnern, in dem die Minderheit von zwei bis drei Millionen Christen arm und schutzlos meist in eigenen Vierteln lebt. Anzeigen bei der Polizei werden nicht verfolgt und Verbrechen an Christen von den Gerichten niedergeschlagen. Größtes Problem sind die Blasphemie-Gesetze, die jede Äußerung oder Handlung gegen den Islam, den Koran und gegen islamische Geistliche unter Strafe stellen. Schon unbewiesene Behauptungen führen zu Verurteilungen, oft auch zu brutalen Angriffen durch einen aufgehetzten Mob. Laut dem christlichen Hilfswerk „Open Doors“ wurden im Jahr 2018 insgesamt 28 Christen ermordet und hunderte Kirchen und christliche Häuser zerstört. Mehrere hundert Christinnen wurden entführt und mit Muslimen zwangsverheiratet. Obwohl kein staatliches Gesetz den Übertritt vom Islam zum Christentum ausdrücklich unter Strafe stellt, wird er als große Verfehlung betrachtet und der Betreffende von radikal-islamischen Gruppen „bestraft“, bis hin zu Mord. (aot)

Wald bei Dunkelheit und Mondschein.
Ende 2015 begann die lange Reise der Flucht, weg von der Gefahr.Foto: stsmhn/iStock/GettyImagesPlus
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