Wer den stellvertretenden Vorstand des Kulturforums südliche Bergstraße Gert Weisskirchen kennt und um seine Verdienste um die Tschechisch-Deutschen Beziehungen als ehemaligen Abgeordneten im Deutschen Bundestag und seinerzeit Außenpolitischem Sprecher der SPD-Fraktion weiß, ahnte schon, dass diese Reise nach Prag etwas Besonderes werden würde. Eine mehrtägige, sehr persönliche Reise zwischen Gegenwart und Vergangenheit: nach Prag und Terezín. Direkt nach der Ankunft unternahm man eine stimmungsvolle Wanderung durch das nächtliche Prag, geführt von Gert Weisskirchen. Die Stadt präsentierte sich in voller Schönheit: Die Prager Burg war eindrucksvoll beleuchtet, und die prächtigen Gebäude spiegelten sich in der Moldau. Prag ist eine entspannte, junge und lebendige Stadt, reich an Cafés, Kultur und Geschichte. Am nächsten Tag trafen die Teilnehmenden Libor Rouček, tschechischer Politiker und ehemaliger Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Er erläuterte die aktuelle politische Lage in Tschechien. Die nächsten Parlamentswahlen stehen im September bevor – und es ist gut möglich, dass Andrej Babiš, Vorsitzender der populistischen ANO-Partei, erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wird. Auch in Tschechien hat der Rechtspopulismus Konjunktur.
Am zweiten Tag begann die Reise in die Vergangenheit: nach Terezín, auch unter dem deutschen Namen Theresienstadt bekannt. In der im 18. Jahrhundert unter Kaiser Josef II. von Österreich-Ungarn als Festung erbaute Garnisonstadt befand sich zwischen 1941 und 1945 das Ghetto Theresienstadt. Hier waren zeitweise bis zu 50.000 Jüdinnen und Juden auf engstem Raum eingesperrt – auf einer Fläche von gerade einmal 0,4 Quadratkilometern, zusammengepfercht unter menschenunwürdigen Umständen. Die Shoah, die systematische Massenvernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, ist für viele Deutsche, die nach diesen Gräueltaten geboren wurden, schwer zu erfassen. Wie kann man seinen Mitmenschen so fürchterliches Leid und Grausamkeiten antun? Natürlich hat man im Geschichtsunterricht den Holocaust behandelt, aber selbst in einem jüdischen Ghetto oder in der kleinen Festung zu stehen, die von der Gestapo als Gefängnis verwendet wurde, in dem die Gefangenen auf grausamste Art gefoltert und ermordet worden sind, ist etwas ganz anderes. Auch hier war der sarkastische NS-Schriftzug: Arbeit macht frei, am Ende des Platzes zu lesen. Was den Besuch ganz besonders machte, war der persönliche Kontakt zu Tomáš Kraus, Rabbiner der jüdischen Gemeinde Prag und früher Leiter der Gedenkstätte. Bis heute engagieren sich Tomáš und seine Nachfolger um die Erhaltung der Gedenkstätte. Es ist beschämend zu sehen, wie schwer es dabei ist, die entsprechenden finanziellen Mittel zu beschaffen, die Anlagen und Gebäude für nachfolgende Generationen instand zu halten oder wieder aufzubauen. Von Erweiterungsmaßnahmen zur Bewältigung der Besucherströme oder dem Aufbau eines Besucherzentrums ganz zu schweigen. Die aus dem Propagandafilm des NS-Regimes bekannten Gebäude sind teilweise zerfallen, das Dach schon eingestürzt. Im früheren Kinderheim, in denen die Kinder der Inhaftierten, getrennt von ihren Eltern, untergebracht waren, ist heute ein Museum untergebracht, das mit einem Informationsfilm und vielen Ausstellungsstücken, den Besuchern die grauenhaften Lebensumstände der Inhaftierten an diesem Ort während der NS-Zeit greifbar macht. Die unter diesen grauenhaften Umständen hervorgebrachten kulturellen Leistungen der Insassen, die Zeichnungen, Gedichte und Kompositionen der inhaftierten Künstlerinnen und Künstler, ihre Biografien überwältigen die Betrachter, dass es kaum in Worte zu fassen ist. Sie waren unter widrigsten Umständen, inmitten von Hunger, Krankheit, Angst und Tod weiter kreativ und künstlerisch tätig. Im Vergleich erschien den in die Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka, Majdanek oder Sobibor deportierten Juden Theresienstadt wie ein „Paradies“, weshalb die Transporte seinerzeit oft als „Züge aus dem Paradies“ bezeichnet wurden. Zum Ende des Besuchs führte Tomáš Kraus die Teilnehmenden zum Krematorium von Theresienstadt. Eine kleine Ausstellung im Vorraum zeigt Schwarz-Weiß-Fotografien. Die Teilnehmenden waren erstaunt, als Tomáš Kraus auf einen Mann in Anzug und Krawatte zeigte und meinte: „Dies ist mein Vater.“ Frantisek R. Kraus war mit seiner Frau in Theresienstadt inhaftiert und durch glückliche Umstände erst kurz vor dem Kriegsende nach Auschwitz und dann in ein anderes Arbeitslager deportiert worden. Als bekannter Journalist und Überlebender des Holocaust hat er seine erschütternden Erlebnisse im Buch „Gas, Gas, und dann Feuer“ niedergeschrieben. Diese persönlichen Erzählungen und Berichte werden vielen Teilnehmenden sicherlich im Gedächtnis bleiben.
Am darauffolgenden Tag reiste man glücklicherweise wieder zurück in die Gegenwart, obwohl die weltpolitische Lage und Ereignisse nicht gerade wenig besorgniserregend und erschreckend sind. Cyril Svoboda, ehemaliger Außenminister Tschechiens, hatte das Kulturforum eingeladen, über die Zukunft Europas zu sprechen. Dabei hatte man auch Gelegenheit, den CO-Vorsitzenden des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums, Jörg Nürnberger (SPD) kennenzulernen. So konnte man sowohl die deutsche als auch die tschechische Sicht auf die gemeinsame Geschichte, die derzeitigen Beziehungen und die geopolitische Lage hören.
Alle Teilnehmenden waren sich einig: Die Demokratie muss bewahrt, die Einheit der Europäischen Union gegenüber autokratischen Einflüssen – insbesondere aus Russland – gestärkt werden. Bilaterale Beziehungen, wie zwischen Deutschland und Tschechien, spielen dabei eine tragende Rolle. Bei einem anschließenden Rundgang durch das jüdische Viertel Prags, mit seinen pastellfarbenen Jugendstilhäusern, durfte man dann das Prag der Jahrhundertwende kennen lernen. Tomáš Kraus zeigte das Haus, in dem seine Familie vor der Deportation nach Terezín lebte. Auf der gegenüberliegenden Seite lebte der weltbekannte Schriftsteller Franz Kafka, zu dem die Familie eine langjährige Freundschaft pflegte. Während des Besuchs im jüdischen Viertel, der beiden Synagogen und des alten jüdischen Friedhofs, wurde den Teilnehmenden bewusst, welch reiche jüdische Kultur in Prag einst lebendig war – und wie sehr sie zerstört wurde. Und wieder beeindruckte Tomáš Kraus, als er über die deutsch-tschechische Aussöhnung nach dem Fall der Mauer sprach und dabei aus dem „Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“, die am 21. Januar 1997 verabschiedet wurde, sinngemäß zitierte: „Wir verzeihen und bitten um Verzeihung.“ Die Erinnerungskultur in Deutschland muss lebendig bleiben. Besonders Schülerinnen und Schüler sollten nach entsprechender pädagogischer und fachlicher Vorbereitung solche Gedenkstätten besuchen – um die Geschichte nicht nur zu verstehen, sondern sie auch wahrheitsgemäß weitergeben zu können.
Zurück in die Gegenwart – die genauso wichtig ist. Auf viele weitere kulturelle, künstlerische und politische Veranstaltungen mit dem Kulturforum Südliche Bergstraße. Falls Interesse an aktuellen Informationen oder einer Mitgliedschaft besteht, einfach eine E-Mail an: info@kulturforum-suedliche-bergstrasse.de schreiben. (jm/red)