Bei einem der ersten schweren Zugunglücke in Deutschland eilten Bewohner aus Sandhausen und St. Ilgen als Helfer herbei
Von Boris Körkel
Dass am Bahnhof St. Ilgen am 2. Januar 1846 eines der ersten größeren Zugunglücke der deutschen Eisenbahngeschichte stattfand, ist heute nicht mehr bekannt. Durch einen Fund in der in Stuttgart erscheinenden Eisenbahn-Zeitung ist der Verfasser auf dieses frühe Unglück der sonst als sehr sicher geltenden Badischen Staatsbahn gestoßen. Zwei entgegenkommende Züge fuhren ineinander. Die Bilanz: 17 Verletzte, einer davon erlag seinen schweren Verletzungen.
„Auf unserer Eisenbahn hat sich gestern ein sehr bedauerlicher Unfall ereignet, indem durch Verschulden des Maschinenführers des um 6 Uhr 20 Minuten Abends von Heidelberg abgegangenen Zuges letzterer mit so großer Geschwindigkeit in die Haltstazion St. Ilgen einfuhr, daß solcher nicht mehr zur gehörigen Zeit angehalten werden konnte, und daher ein Zusammenstoß mit dem von Karlsruhe entgegenkommenden Zuge in dem Augenblick erfolgte, als dieser eben durch die obere Auslenkung in die zweite Spur einfuhr. Durch diesen Zusammenstoß wurden an dem von Karlsruhe kommenden Zuge nicht nur der unmittelbar hinter dem Tender angehängte leere Transportwagen, sondern auch der zunächst folgende Personenwagen dritter Klasse gänzlich zertrümmert und zwei weitere Personenwagen beschädigt. Der Maschinenführer, dessen sträfliche Unachtsamkeit diesen Unfall veranlaßte, ist sogleich in gefängliche Haft genommen und eine gerichtliche Untersuchung gegen ihn eingeleitet worden.“
So am 11. Januar 1846 in der Eisenbahn-Zeitung, die einen entsprechenden Artikel aus der Karlsruher Zeitung vom 3.1.1846 übernahm.
Weitere Zeitungsmeldungen folgten, die so beschaffen waren, dass Spekulationen breiten Raum geboten wurde. Einmal wurde dem Lokführer, dann dem Personal am Bahnsteig die Schuld gegeben, es wurde vermutet, dass dieser betrunken gewesen sei. Einmal hieß es, der Bahnwärter habe versäumt, die zur Beleuchtung vorgesehenen Fackeln anzuzünden. schließlich wurde auf ein Versagen der Technik spekuliert, sicherlich sei eine Stange gebrochen, die das Umschalten vom Vorwärts- in den Rückwärtsgang ermöglichte. Dass der Fehler bei der Badischen Staatsbahn liegen könne, hielt man für ausgeschlossen. Auch von „Force majeur“, also höherer Gewalt, als Ursache des Unglücks, wollte man nichts wissen.
Die Badische Staatsbahn hatte erst 1840 den Betrieb auf der Strecke Mannheim – Heidelberg aufgenommen. Auf der gut 54 km langen Linie von Heidelberg nach Karlsruhe war am 10. April 1843 der Startschuss gefallen. Und am 1. Mai 1844 wurde die Station St. Ilgen zum ersten Mal auch als Haltepunkt für Ein- und Ausstiege genutzt.
Als verhängnisvoll erwies sich, dass man sich zunächst dafür entschieden hat, die Strecke nur einspurig zu bauen. An der Haltestation St. Ilgen bestand deshalb ein Ausweichplatz, so dass hier zwei entgegengesetzte Züge passieren konnten. Der Zug aus Heidelberg musste dabei auf dem östlichen Gleis auf den aus Süden kommenden Zug warten.
Die im Anschluss an den Unfall durchgeführten polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass zu schnelles Einfahren in die Station zum Zusammenstoß führte. Wegen „nachlässige[r] Dienstführung“ sei der Lokomotivführer den Gerichten übergeben worden.
Tragisch die Folgen des Unfalls: Fünf Personen mussten ins Heidelberger Spital gebracht werden, darunter der lebensgefährlich verletzte Bediente des Obersten v. Roggenbach aus Mannheim. Ein junger Mann aus dem Hannoverischen: am Unterleib gefährlich verwundet, ein weiterer junger Handelsreisender aus Durlach hatte beide Beine gebrochen, ein anderer, aus Mannheim, sei am ganzen Körper schwer verbrannt gewesen. Von den zwei lebensgefährlich Verletzten sollte einer seinen schweren Verletzungen noch erliegen. Mit Spital ist das akademische Spital gemeint, das seit 1844 im ehemaligen Collegium Carolinum in der Seminarstraße untergebracht war. Weitere Verletzte wurden in Gasthöfen, einer in St. Ilgen versorgt.
Bei der medizinischen Erstversorgung war offenbar improvisiert worden. Auf derartige Unfälle war man damals nicht vorbereitet. In den öffentlichen Berichten wird vor allem das vorbildliche Verhalten der Bewohner der angrenzenden Ortschaften St. Ilgen und Sandhausen betont, „welche sofort Sturm läuten ließen und in jeder Weise sich den unglücklichen Opfern dieses Vorfalls hilfreich bewiesen.“ Auch ansässige Ärzte seien herbeigeeilt, um zu helfen.
Auch der Abtransport der Verwundeten erwies sich als ein riesiges Problem. So seien „einige auf vier Tragbahren, andere zu Wagen“ bis Heidelberg gebracht worden, wohlgemerkt bei Winterskälte und Finsternis. Die Entfernung beträgt, damals wie heute, zwei Wegstunden. Allem Anschein nach war die aus Karlsruhe kommende Lokomotive, die unbeschädigt blieb, zu diesem Zweck nicht zu gebrauchen, wohl weil das Gleis durch die Trümmer versperrt war. Wie dramatisch es beim Transport der Verletzten zugegangen sein muss, kann man sich ausmalen. Ein organisiertes Sanitätswesen ist erst viel später entwickelt worden.
Immer wieder gab es neue Zeitungsberichte, die das Unglück zum Teil drastisch schilderten. So ist auch zu erfahren, dass die Brandwunden eines Passagiers durch Vitriolöl, also Schwefelsäure, die einer der Fahrgäste „ungeachtet des Verbots“ mit sich geführt habe, entstanden. Am 27. Januar wurde schließlich der abschließende behördliche Bericht über den Unfall veröffentlicht; „zur Steuer der Wahrheit und zur Beruhigung des Publikums“, wie es hieß.
Beim Eisenbahnunfall von St. Ilgen handelt es sich um einen der ersten schweren Zugunfälle in Deutschland, vermutlich um den zweiten, bei dem eine Person ums Leben kam. Bereits im April 1844 war es in Wiesloch zu einem Eisenbahn-Unfall gekommen, der noch glimpflich verlief. Auch in diesem Fall war das Problem in der Eingleisigkeit der Bahn zu sehen: Die beiden entgegengesetzten Züge waren, wohl aufgrund einer Verspätung des Karlsruher Zuges, gleichzeitig in Wiesloch eingetroffen.
Bereits am 15.7.1843 war es in St. Ilgen zu einem Unfall gekommen, bei welchem der Lammwirt Holzmüller aus Oberöwisheim nahe der Station St. Ilgen die Unvorsichtigkeit beging, aus dem fahrenden Zug herabzuspringen, „um seiner durch den Wind entführten Mütze nachzulaufen.“ Er verletzte sich dabei schwer und wurde von dem Bahnhofaufsichtspersonal „sogleich nach dem nahegelegenen Orte Sandhausen zur ärztlichen Behandlung gebracht.“
Ein ausführlicher Bericht über den Unfall des Jahres 1846 ist im Heimatkalender der Rhein-Neckar-Zeitung „Unser Land 2025“ nachzulesen.