In der Leonberger Kreiszeitung erscheint aktuell die Serie „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg“. Zahlreiche Fotos und Filmausschnitte aus dem Stuttgarter Stadtarchiv werden hier anlässlich des Kriegsendes vor 80 Jahren gezeigt.
Auch über die Jahre des Dritten Reichs in Rutesheim gibt es einen großen Fundus in unserem Archiv im Rathaus. Im Heimatbuch und vor allem in der Stadtchronik sind umfängliche Ausführungen dazu gemacht. Vom Arbeitskreis Geschichte vor Ort wurden viele weitere Zeitzeugen zu dieser Zeit befragt und in der Folge sind in den vergangenen Jahren rund 20 Veröffentlichungen in den Stadtnachrichten erschienen. Auch mit Blick auf das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine und im Nahen Osten ist es für uns ein Selbstverständnis, das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren in unserem Ort erneut aufzugreifen. Die erschienenen Artikel noch einmal zu veröffentlichen, wäre zu einfach und würde auch den Rahmen sprengen. Alle Ereignisse in einen Artikel zu packen, wäre unangebracht und vom Umfang her kaum möglich. Und so wollen wir ebenfalls mit einer Serie in vier Teilen an diese Zeit erinnern:
Auch diese vier Artikel können nur einen kleinen Teil dieser Zeit und nur wenige von vielen Einzelschicksalen in Rutesheim abbilden.
Von 1927 bis 1945 war Friedrich Raich Bürgermeister in Rutesheim. In seine gut 17-jährige Amtszeit fallen zahlreiche bedeutende Entwicklungs- und Baumaßnahmen in der Gemeinde. Hervorzuheben sind der Bau der Bahnhofstraße und die Anbindung Rutesheims an die Eisenbahnhaltestelle, der Bau der Turn- und Festhalle, der Anbau an das Schulhaus in der Hindenburgstraße mit Bau des Lehrerwohngebäudes sowie der Bau der Kleinsiedlung auf dem Hofrain. In der Zeit des Nationalsozialismus (1933 – 1945) kooperierte Friedrich Raich zwar weitgehend mit dem politischen System. Liest man die Gemeinderatsprotokolle ab 1933 wird aber schnell klar, dass er immer mehr zur Marionette seines Amtes wurde. Die Fraktion der NSDAP mit 6 Sitzen im Gemeinderat hatte eine so große Mehrheit, dass sie schon ab 1933 am Bürgermeister und Gemeinderat vorbei entscheiden konnte. Die Fraktion traf sich vor jeder Sitzung intern und legte schon hier die späteren Beschlüsse fest. Unerwünschte Gemeinderäte wurden aus dem Gemeinderat entfernt. Unverfroren bediente sich die Partei aus der Gemeindekasse. Jeder, der nicht auf Linie war, musste mit Repressalien rechnen, so wurden auch Vereine aufgelöst oder verboten.
Man durfte nichts Falsches sagen. Eugen Schaber, Jahrgang 1908, arbeitete bei der Firma Bosch in einem Tunnel bei Heubach. Dort wurden auch KZ-Häftlinge beschäftigt und drangsaliert. Bei einem Kurzurlaub im Herbst 1944 in Rutesheim schilderte er das Erlebte und meinte: „Wenn es einen Gott im Himmel gibt, können wir den Krieg nicht gewinnen. Mit Menschen darf man so nicht umgehen.“ Er wurde daraufhin ins „Braune Haus“ zum NSDAP-Ortsgruppenleiter Kurfiss geladen. Es folgte ein Stellungsbefehl und Eugen Schaber wurde zur Waffen-SS eingezogen.Sein letzter Brief vom Fronteinsatz in Ungarn kam im Februar 1945 – danach galt er als vermisst.
Auch Behinderte wurden früh als „lebensunwertes Leben“ eingestuft. Mehrere Rutesheimer wurden in diesen Jahren in Anstalten wie Weißenau, Winnental und Grafeneck eingeliefert. In der Stadtchronik sind einige dieser Schicksale ausführlich geschildert. Mindestens drei Rutesheimer (Mathilde Duppel, Friedrich Off und Elfriede Epple) kamen in den Tötungsanstalten in Grafeneck und Limburg ums Leben.
Unter den Namen der Behinderten taucht auch der Name Charlotte Schulheimer auf. Charlotte und ihr Mann Sigmund waren Juden und lebten seit 1927 im Rutesheimer Widdumhof. Ab 1931 betrieb Sigmund Schulheimer einen Handel mit Seife, Fett und Ölen. In einem Gespräch über den erwarteten Krieg äußerte er sich mit den Worten: „Dieser Krieg ist für Deutschland schneller verspielt, als ihr alle ahnt.“ Er wurde bei der NSDAP denunziert und 1938 zunächst zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach der Verbüßung der Strafe kam er im Oktober 1939 ins KZ Sachsenhausen, wo er später verstarb. Auch Charlotte Schulheimer kam nach Aufenthalten in verschiedenen Heilanstalten 1942 mit einem der berüchtigten Transporte ins KZ Auschwitz. Vor dem Widdumhof erinnern heute zwei im Jahre 2012 verlegte Stolpersteine an das von Nazis ermordete Ehepaar Schulheimer. Nicht nur das jüdische Ehepaar kam in ein KZ, auch der Rutesheimer Richard Schwarz starb 1940 im KZ Mauthausen.
Auch im einst beschaulichen Rutesheim gab es keine Ausnahmen von den vielfältigen Verbrechen des Regimes.
Die beschriebene Zeit in Rutesheim ab 1935 ist auch filmisch dokumentiert. Ludwig Krämer war Glaser, Gemeindepfleger und ab März 1946 22 Monate lang auch Bürgermeister in Rutesheim. Ein Hobby von Ludwig Krämer war das Filmen. Aus der Zeit von 1935 bis 1950 liegen historische und einzigartige Filmsequenzen vor. Die beschriebene politische Entwicklung ist auch in diesem Filmverlauf gut erkennbar. Die Unverfänglichkeit zu Beginn der Aufnahmen lässt zunehmend nach, mehr und mehr sieht man die Fahnen der NSDAP, Aufmärsche, ernste Uniformträger, eine eingeschüchterte Bevölkerung, Hitlergrüße und dergleichen. Man kann die bedrohliche Stimmung in manchen Sequenzen oftmals geradezu erahnen. Die Filmaufnahmen von Ludwig Krämer wurden im Jahre 2008 mit der DVD „Rutesheim – Erinnerungen“ veröffentlicht. Die DVD kann auch heute noch erworben werden, u.a. beim Bürgerfest am 29. März 2025.
In Teil 2 erinnern wir an fünf Tragödien in acht Wochen mit vielen Toten und Verletzten kurz vor Kriegsende. Jetzt kam der Krieg auch in Rutesheim an.
Harald Schaber