
Meine Lippen zittern, es ist kalt am Mannheimer Hauptbahnhof. Hunderte Menschen laufen gehetzt über den großen Bahnhofsplatz, eingepackt in dicke Winterjacken, Schals und Mützen. Auf den wenigen Sitzgelegenheiten liegen Obdachlose, hören Musik und frieren in dünnen Klamotten. Der erste Tag im Jahr mit Frostgraden.
Manche von ihnen werden heute vermutlich die Bahnhofsmission aufsuchen. Links neben der großen Bahnhofshalle befinden sich die Räumlichkeiten der Hilfsorganisation. Ich klingle bei der etwas eingedellten Tür, rechts über mir befindet sich das Logo: ein rosa Kreuz, ein gelber Balken, ein Schriftzug in einem Kreis. Andrea Rode, ehrenamtliche Mitarbeiterin, macht mir auf. Innen ist die Heizung an.
Die Bahnhofsmission existiert seit 1894. Die erste Einrichtung wurde am Berliner Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) gegründet, damals noch zum Schutz von alleinreisenden Frauen. Inzwischen kümmert sich die Organisation nach eigenen Angaben pro Jahr um rund 2 Millionen Menschen, die am Bahnhof in Not geraten sind.
Ich darf heute bei einer Schicht dabei sein. Ursula Baues, Hauptamtliche in der Koordination, begrüßt mich und gibt mir sofort eine der blauen Jacken, an denen man die ehrenamtlichen Helfer:innen an über 100 Bahnhöfen im Land erkennen kann.
Ein Mann sitzt in der Ecke und trinkt Kaffee. Morgens sei noch nicht so viel los, erst mittags fülle sich der Raum mit Menschen, wird mir mitgeteilt. Baues zeigt mir die Räumlichkeiten: eine gefüllte Vorratskammer mit Kaffee, Tee und Süßigkeiten, einen Raum der Stille als Rückzugsort, den Besucherraum mit 20 Plätzen und die Küche. Die Deutsche Bahn stellt die Räume kostenfrei zur Verfügung, zwischen 8:30 und 19:30 haben sie jeden Tag geöffnet.
Gerade für obdachlose und einsame Menschen, aber auch für Reisende, ist die Bahnhofsmission eine zentrale Anlaufstelle. Sie gibt zwar kein warmes Essen aus, hat auch keine Duschen, doch können die Mitarbeitenden die Menschen an Einrichtungen weiterleiten, die ein solches Angebot haben. Angaben der Stadt zufolge gibt es in Mannheim zwischen 80 und 100 Obdachlose.
Im Mitarbeiterraum liegen überall Flyer mit hunderten Telefonnummern, die Bahnhofsmission ist in der Umgebung ideal vernetzt. Außerdem macht Ursula Baues auch eigene Info-Flyer mit den wichtigsten Ansprechpartnern für Menschen in Notlagen.
Langsam füllt sich der Raum neben der Küche. Ein Mann kommt herein und will sich einfach nur schnell aufwärmen, mehr nicht. Das gibt es hier auch häufig: Die meisten wollen schlicht einen ruhigen Ort und eine Tasse Kaffee. Die junge FSJlerin setzt sich zu einem der Männer und spielt mit ihm Schach. Sie würde immer gewinnen, beklagt er.
Gerade für solche Kleinigkeiten ist die Bahnhofsmission da. Am Mannheimer Hauptbahnhof bewegen sich jeden Tag rund 136.000 Menschen, er ist einer der verkehrsreichsten Bahnhöfe Deutschlands. Viele Menschen, gerade Ältere, würden in dem ganzen Trubel „verloren gehen“ oder benötigen einen Rückzugsort. Manche brauchen auch einfach Hilfe beim Umstieg. Die kann man sogar im Netz buchen.

Das Türklingeln unterbricht mein Gespräch mit den Mitarbeitenden. Ein junger Mann fragt, ob wir ein Dokument für ihn kopieren könnten. Peter Müller, ehrenamtlicher Mitarbeiter, bedient den ratternden Kopierdrucker und hilft dem Mann. Die Bahnhofsmission ist zur Stelle.
Peter Müller ist seit neun Jahren dabei, seit seinem Ruhestand. Er hat eine erblindete Tochter, weshalb er schon viele Erfahrungen mit der Umstiegshilfe der Bahnhofsmission gemacht hatte. Zudem interessiert er sich für Züge und Bahnhöfe, ein paar seiner ehrenamtlichen Kolleg:innen seien sogar bei der Bahn angestellt. Im Alter möchte er „was zurückgeben“, wie er selbst sagt.
Wie erkennt man, wer in Not ist? Bei einem Rundgang durch den Bahnhof – einen solchen machen sie jede Stunde einmal – erklärt Müller mir mehr: Man erkenne es vor allem an der Mimik, an fragenden Blicken, verwirrten Gesichtsausdrücken. Solche Menschen spricht er immer an – viele würden sich sonst nicht trauen, um Hilfe zu bitten.
Als wir gerade auf dem Rückweg sind, fällt Müller ein Mann im Rollstuhl auf. Der Mann finde den Fahrstuhl nicht, beklagt er – ein Problem, das am großen Hauptbahnhof häufig vorkommt, wie mir mitgeteilt wird. Peter Müller schiebt den Mann zum nächsten Aufzug, der ältere Herr im Rollstuhl bedankt sich.
Zurück in den Räumlichkeiten der Mission fällt auf, dass nur Männer an den Tischen sitzen. Ursula Baues bestätigt: Überwiegend Männer, rund 90 Prozent, würden die Bahnhofsmission besuchen, ungefähr die Hälfte von ihnen seien Stammgäste.
Es gebe aber auch viele Frauen in Notsituationen. Diese würden sich oft nicht trauen, um Hilfe zu bitten, und sich lieber in schwierige Beziehungen begeben, um nicht auf der Straße leben zu müssen. Manche Frauen müsse man regelrecht ermuntern, in die Bahnhofsmission zu kommen.
Als während Corona niemand in die Räume gelassen und nur am Fenster geholfen wurde, seien auch öfters Frauen gekommen. Sie fühlen sich offenbar nicht wohl, die Räume mit den Männern zu teilen.
Andrea Rode und Peter Müller unterhalten sich derweil über einen Mann, den sie „Pink Floyd“ nennen. Peter Müller erklärt, dabei handle es sich um einen älteren Herrn über 80, der ihm immer von Pink-Floyd-Konzerten erzählt, die er als junger Erwachsener besucht hatte.
Rode kennt den Mann unter einem anderen Spitznamen: General Ulrich. Erst nach mehreren Gesprächen bemerkten die beiden, dass sie von derselben Person sprechen – einem lieb gewonnenen Stammgast.
In der Bahnhofsmission werde man oft mit einsamen, alleingelassenen Menschen konfrontiert – vor allem einsamen Senioren. Für manche seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vermutlich der einzige soziale Kontakt am Tag, viele Gäste würden sogar direkt nach einem offenen Ohr fragen, erklärt Baues.

Eine psychologische Beratung findet in der Einrichtung nicht statt. Die Bahnhofsmission kann lediglich an professionelle Psychologen verweisen. An einem Bahnhof gebe es auch immer wieder Konfrontationen mit akut suizidgefährdeten Personen. In solchen Fällen muss die Bundespolizei eingeschaltet werden.
Ab drei Uhr hätten fast alle Einrichtungen, wo man zum Beispiel ein warmes Essen bekommen kann, geschlossen. Nachmittags und abends wird es also immer voller und die Ehrenamtlichen tun, was sie können, um die Menschen zu unterstützen, um zum Beispiel einen Schlafplatz zu vermitteln – oder auch einfach nur, um da zu sein und zuzuhören. Am schlimmsten – und da waren sich alle einig – ist, wenn man einer Person mal nicht helfen kann.
Eine zusätzliche Herausforderung sind außerdem Sprachbarrieren: Gerade als der Krieg in der Ukraine ausgebrochen war, gab es viele Flüchtlinge an den Bahnhöfen, die kein Deutsch sprechen konnten. Der Google-Übersetzer ist inzwischen ein alltägliches Werkzeug.
Die Gäste seien oft „durch den Wind“, sagt Ursula Baues. Die Bahnhofsmission ist meist die letzte Anlaufstelle, nachdem die Menschen schon alles andere ausprobiert haben. Wenn man dann nicht helfen kann, können manche Gäste auch unangenehm werden.
Ein Mann steht an der Tür und will mit seinem Hund den Raum betreten. Eigentlich sind Haustiere verboten, der Mann beteuert aber, es handle sich um einen Therapiehund – für den er keinen Ausweis hat. Solche Diskussionen können ab und an auch ausarten.
Manche Menschen sind aggressiv, die Gäste beleidigen sich manchmal gegenseitig – und das dann auch mit diskriminierenden Begriffen. Deeskalation ist in solchen Situationen die erste Devise, hierfür absolvieren die Ehrenamtlichen auch einen Kurs bei der DB-Sicherheit. In Härtefällen müssen die Mitarbeitenden Hausverbot erteilen. Wenn das nicht hilft, kommt die Polizei.
Bei dem Mann mit dem Hund bleibt die Situation kontrolliert. Eine schnelle Google-Recherche enthüllt, dass man für einen Therapiehund gar keinen Ausweis braucht. Er darf ausnahmsweise mit dem Hund die Räume betreten. Situation gekonnt deeskaliert.
Eskalationen kämen „zum Glück“ nicht oft vor. Obwohl es in den Medien oft anders wirkt, sei Mannheim kein wirklich hartes Pflaster, beteuern die Kolleginnen und Kollegen.
Die Gäste sind, was Nationalitäten betrifft, sehr gemischt. Ursula Baues weist nur darauf hin, dass Migrantinnen und Migranten es oft schwerer haben aufgrund von Sprachbarrieren und fehlendem Wissen in Deutschland. Am häufigsten hätten sie mit Osteuropäern zu tun.
Die Schicksale der Gäste sind bewegend: Eine Polin, die als Prostituierte nach Deutschland gebracht wurde, nun aber wieder heim möchte; ein Rumäne, der in Mannheim arbeiten wollte, aber erst zu spät merkte, dass er hier gar keinen Arbeitsvertrag hat. Um die emotionalen Erfahrungen nicht mit nach Hause mitzunehmen, empfiehlt Baues die Dienstkleidung: Die könne man am Ende der Schicht wieder ausziehen – und somit den ganzen Tag auf der Arbeit lassen.
Distanz ist ein weiteres Stichwort: Ursula Baues macht klar, dass man mit den Gästen immer per Sie sei, was auch in Konfliktsituationen förderlich sein kann. Mit den Kolleg:innen zu reden, sei ebenfalls hilfreich: Die Teammitglieder ergänzen sich mit ihren jeweiligen Kompetenzen. Außerdem könne man jederzeit ein Supervisionsangebot der Bahnhofsmission in Anspruch nehmen.
Eines kann der Bahnhofsmission immer ein Lächeln aufs Gesicht zaubern: Spenden! Tatsächlich kommt während meines Besuchs ein Ehepaar vorbei und gibt einen ganzen Karton voller Sachspenden ab. Mit großer Freude bestaunen die Mitarbeitenden das in weihnachtlichem Geschenkpapier eingewickelte Geschenk. Besonders freut sich Ursula Baues über die nette Weihnachtskarte.
Im November und Dezember bekomme die Bahnhofsmission am meisten Spenden – so viele, dass Kekse manchmal noch bis in den Sommer übrigbleiben würden. Sie befindet sich zwar in der Trägerschaft der Caritas, auch die Stadt und das Verkehrsministerium fördern die Mission, doch auch die Spenden helfen, die laufenden Kosten zu decken. Den größten Teil der Kosten trage jedoch die Caritas, betont Baues.
Die Bahnhofsmission darf außerdem als einzige Organisation am Bahnhof Spenden einsammeln, bei der Buchhandlung Schmitt & Hahn im Untergeschoss befindet sich hierfür zum Beispiel eine Spendenkasse. Zudem bedanken sich viele Menschen für die Hilfe der Mitarbeitenden mit ein paar Euro.
Letzteres erzählt mir Peter Müller, als wir den zweiten Rundgang machen. Der Tag sei trotz des kalten Wetters bisher ungewöhnlich ruhig gewesen, meint er. Es gebe nichts, woran man festmachen könne, wie viele Menschen die Hilfe der Bahnhofsmission aufsuchen würden. Es sei „mal so, mal so“, sagt Müller, als wir unsere letzte Runde drehen.
Und so geht mein Tag zu Ende – ein Tag, wie die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihn täglich erleben. Nachdem ich meine Sachen wieder gepackt habe, ist für mich klar: Es sind kleine Gesten, die hier zählen, doch für viele machen sie den Unterschied zwischen Fremdsein und Geborgensein. Zwischen Bahnhof und Zuhause liegt manchmal eben nur eine Tasse Tee – und jemand, der für einen da ist.
Anstelle von Weihnachtsgeschenken an die Kunden hat NUSSBAUM Medien dieses Jahr beschlossen 5000 Euro an die Bahnhofsmissionen in Baden-Württemberg zu spenden. Zusätzlich zu diesem Betrag hat die NUSSBAUM Stiftung auf der stiftungseigenen Plattform gemeinsamhelfen.de eine Spendenaktion gestartet, um weitere Spenden an die Bahnhofsmissionen zu ermöglichen.
► Wer die Bahnhofsmissionen in Baden-Württemberg bei ihrer wertvollen Arbeit unterstützen möchte, kann dies hier tun.
Auch in Stuttgart gibt es eine Bahnhofsmission. Ein Besuch.


