Ikimiz – Wir beide – ist als Programm zu verstehen. Bei diesem Mentoring-Projekt schauen türkeistämmige Studierende nach Schülern und Schülerinnen, ebenfalls aus dem türkischen Kulturraum. Sie stehen ihnen in schulischen Dingen zur Seite, aber auch im alltäglichen Leben. Es geht in dem Projekt darum, kulturell bedingte Lücken zu schließen und damit Schwierigkeiten zu überwinden.
Ikimiz ist angesiedelt beim Deutsch-Türkischen Forum Stuttgart und besteht seit 2009. Der „Große Bruder“ (Abey) und die „große Schwester“ (Abla) begleiten ein jüngeres Kind mit Migrationshintergrund durch das Schuljahr. Dabei geht es um viel mehr als lediglich um klassische Nachhilfe in Deutsch, Mathematik oder Englisch. Die Mentorinnen und Mentoren kümmern sich auch in der Freizeit um ihre Schützlinge, gehen mit ihnen ins Kino, in die Bibliothek oder ins Museum. Kurzum dienen sie als Vorbilder und leben vor, wie man das deutsche Umfeld mit dem Hintergrund der türkischen Kultur meistern kann. Die Mentorinnen und Mentoren sind junge Studierende oder auch ältere Schüler und Schülerinnen, die den gleichen kulturellen Hintergrund haben wie ihre kleinen „Brüder“ oder „Schwestern“ und aufgrund dessen die Probleme ihrer Schützlinge gut kennen.
In manchen Familien aus dem weitgefassten türkischen Kulturbereich, die in Deutschland leben, ist die Mutter die Alleinerziehende. Der Vater und damit das männliche Vorbild fehlt. Auch da setzt Ikimiz an. Ein männliches Role-Model kann Kindern und Jugendlichen vorleben, wie man sich in dem für die Kinder oft fremden Kulturkreis bewegt. Vor allem dann, wenn das Elternhaus noch stark der heimatlichen Kultur anhängt.
„Unsere Mentorinnen und Mentoren kennen die hiesige Kultur gut, wissen, wo es bei ihren Schützlingen an Kenntnis fehlt und können so Wege aufzeigen, sich besser zurechtzufinden“, erklärt Julia Unterbirker, die den Bereich Bildung und Soziales im Deutsch-Türkischen Forum leitet. Vor allem aber könnten sie sich sehr gut in die Situation ihrer Mentees hineinversetzen.
„Es werden nachweislich Bildungszugänge für Kinder mit Migrationshintergrund verbessert“, fügt Julia Unterbirker hinzu. Die Begleitung umfasst wöchentlich zwei Stunden, dazu kommen dann noch die außerschulischen Aktivitäten wie beispielsweise Museumsbesuche und die enge Kooperation mit den Eltern – auch bei Alltagsthemen. Mehmet Karaca betreut als Mentor seit einem Jahr einen Zweitklässler. „Oft haben türkeistämmige Kinder Probleme in der Schule, Kontakte zu knüpfen, da sie vielfach zweisprachig aufwachsen“, sagt Karaca. Er und seine Kollegen und Kolleginnen nehmen oft Kontakt zu den Eltern auf, sie unterstützen bei Elternabenden, auch mit Informationen über das deutsche Schulsystem.
Das Programm ist mit 30 Plätzen ausgestattet. Mittlerweile bietet das Forum eine 1:1-Betreuung an. Zu Beginn des Programms im Jahr 2009 kamen auf einen Mentor oder Mentorin noch mehrere Mentees. „Die 1:1-Betreuung bedeutet Qualität statt Quantität“, betont Jule Burnette, die pädagogische Referentin im Forum. „So können wir deutlich mehr Tiefe in der Betreuung anbieten.“ Die Mentees kommen aus den Grund- und weiterführenden Schulen der Klassen 1 bis 7. Die Beziehung zwischen Großen und Kleinen läuft meist über Jahre. Zuweilen ist es dann auch ein Geschwisterkind, das seinen älteren Brüdern oder Schwestern im Ikimiz-Programm folgt. „Da entstehen familiäre Bindungen“, erklärt die pädagogische Referentin Beliz Koçak-Faber. Das Programm kommt offensichtlich gut an, die Warteliste ist lang.
Das Deutsch-Türkische Forum pflegt Kooperationen zu sechs Schulen in der ganzen Stadt, die Schulkinder, die Unterstützung benötigen, weitervermitteln. Wie aber werden großer und kleiner Bruder zusammengebracht? „Wir sind die Schnittstelle zwischen den Familien und den Mentorinnen und Mentoren und stellen den ersten Kontakt her“, beschreibt Unterbirker das Vorgehen. Es wird geschlechterübergreifend gearbeitet. Mittlerweile gibt es Mentoren und Mentorinnen flächendeckend aus fast allen Stadtteilen.
Die Mentoren können ab 16 Jahren ins Programm einsteigen, die meisten sind Anfang 20, es sind Studentinnen und Studenten oder Abiturienten aus Stuttgart dabei. Sie werden pädagogisch geschult und auf ihre Aufgaben vorbereitet, sie erhalten Unterstützung über Workshops und Teamaktivitäten und sie bekommen ein Stipendium. Sie bewerben sich über ein Formular für die Aufgabe. Dieses erfasst persönliche Angaben sowie Angaben zur Motivation, Verfügbarkeit und zu besonderen Kompetenzen. Mit der Anmeldung verpflichten sich Bewerberinnen und Bewerber zur regelmäßigen wöchentlichen Teilnahme und zu einem mindestens ganzjährigen Engagement.
Und Ikimiz wirkt - das zeigen Zahlen. Externe Evaluationen attestieren messbare Verbesserungen bei schulischen Leistungen, ein Mehr an Selbstwertgefühl und sozialer Kompetenz – bei den Kindern, aber auch den großen Schwestern und Brüdern.
Das Projekt Ikimiz-Mentoring ist ein gelebtes Beispiel wirkungsvoller, kulturell sensibler Bildungsförderung. Es wurde mehrfach evaluiert und ausgezeichnet. Als Konzept ist es übertragbar – und findet in Stuttgart mit weiteren Initiativen bereits Nachahmer oder Ergänzungen. Es zeigt, wie Engagement von Menschen mit eigener Migrationsgeschichte wirksam zur Integration, Chancengleichheit und interkulturellen Verständigung beitragen kann. Die Teilnahme am Programm kostet die Familien einen kleinen Betrag. Das Projekt finanziert sich überwiegend über die Mitgliedsbeiträge des Forums sowie über Fördertöpfe der Stadt Stuttgart.
Ikimiz ist ausgezeichnet mit dem Bürgerpreis der Bürgerstiftung Stuttgart, aufgenommen in die Ernst-Reuter-Initiative Deutschlands und der Türkei. Und im Jahr 2024 war Ikimiz für den NUSSBAUM Jugend Award nominiert.
Das Programm wird vom Deutsch-Türkischen Forum Stuttgart (DTF e. V.) organisiert, das seit 1999 den interkulturellen Dialog in Stuttgart stärkt. Über das Programm werden neben dem Bildungsaspekt auch ein kultureller Austausch und gesellschaftliche Teilhabe gefördert. Das DTF versteht sich als kulturelle Schnittstelle zwischen deutscher Kultur, ohne einen religiösen Hintergrund. Das DTF organisiert auch Kabarettwochen, Filmtage, Literatur- und Musikveranstaltungen, das Türkei-Festival und anderes. Es gibt außerdem Bildungsangebote wie muttersprachliche Seminare für Eltern, interkulturelle Schulprojekte, Tagungen zu Migration, Gesundheit, Politik und Wirtschaft.
→ Der Internetauftritt des Ikimiz-Projekts
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