
„Lass uns erst dieses Weihnachten überstehen“, flüsterte sie zu Hans. „Danach komme ich zu dir. Dann bin ich nicht mehr allein.“ Vorsichtig stellte Emma den Strauß vor das Grab und strich mit der Hand über den kalten Stein – ein stiller Gruß, ein letzter Trost.
Auf dem Heimweg fiel leiser Schnee. Die Straßenlaternen spiegelten sich im Weiß, und für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Da hörte sie eine Stimme: „Hallo, Emma!“
Ein Junge mit roter Mütze lief auf sie zu. Sein Gesicht war rot vor Kälte, seine Augen funkelten. „Benjamin!“, rief Emma überrascht. Er hielt ein Paar kleine Handschuhe in der Hand.
Benjamin erzählte fröhlich, dass seine Mutter gerade das Weihnachtsessen vorbereite und am Abend die Großeltern kämen.
Emma lächelte, zog einen kleinen Teddyanhänger aus der Tasche und gab ihn ihm. „Frohe Weihnachten, mein Kleiner.“
„Danke! Ich werde ihn immer bei mir tragen!“, sagte Benjamin stolz.
Benjamins Mutter war einst Emmas Schülerin – ein ausländisches Mädchen, das kaum Deutsch sprach und von anderen Kindern ausgeschlossen wurde. Emma hatte sie damals ermutigt: „Du schaffst das. Kein Stress, nimm dir Zeit.“ Diese Worte gaben ihr Mut, und Jahre später wurde sie Polizistin.
Am Abend zündete Emma die Lampe an. Das Haus war still, nur das Ticken der Uhr war zu hören.
Da klingelte es. Vor der Tür standen Benjamin und seine Mutter Mia, mit zwei kleinen Schachteln in den Händen. „Das ist für dich“, sagte Benjamin. „Weihnachtsgebäck – Mama hat sie gemacht. Aber erwarte nicht zu viel.“
Mia reichte ihr die zweite Schachtel: „Frohe Weihnachten, Emma. Öffne sie erst, wenn wir weg sind.“ Emma spürte die Wärme ihrer Umarmung, das Glitzern feuchter Augen.
Kurz zuvor hatte Mia in ihrer Küche gestanden, den Kochlöffel in der Hand, als Benjamin ihr stolz den Anhänger zeigte. Sie erinnerte sich an Emmas Worte: „Dieser Anhänger wird mich immer begleiten – es sei denn, ich sterbe.“
Ohne zu zögern legte sie den Kochlöffel zur Seite, zog sich die Jacke an und ging von Haus zu Haus. Sie bat ehemalige Schüler und Nachbarn um kleine Botschaften für Emma – Worte der Erinnerung, des Dankes, des Lichts.
Nachdem sie gegangen waren, öffnete Emma vorsichtig die zweite Schachtel. Darin lagen Zettel, Briefe, Karten – jede Zeile ein Stück Herz.
„Liebe Frau Liebherz, danke, dass Sie an mich geglaubt haben.“
„Durch Ihre Worte habe ich wieder Mut gefunden.“
Emma las und lächelte. Die Dunkelheit um sie wurde weicher, als würde das Licht aus den Zeilen direkt in ihr Herz fallen.
Später fragte Benjamin auf dem Heimweg: „Mama, wir schaffen den Gänsebraten nicht mehr, oder?“ Mia lächelte: „Das macht nichts. Wir haben heute etwas viel Wichtigeres getan.“
Emma saß noch lange im Lampenschein. Draußen tanzten die Schneeflocken, drinnen roch es nach Gebäck. Aus der Ferne erklangen die Glocken der Kirche. Weihnachten war da.
Emma lächelte – diesmal zu sich selbst.
Bijuan Dong-Barié, Karlsruhe-Grötzingen
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