Der Wasserfallsteig führt per pedes am Wasser entlang, zu den Pferden und mitten durch die württembergische Geschichte. Heute kann sich wohl kaum einer vorstellen, dass Urach – damals noch ohne Bad-Titel – als Hauptstadt eines durchaus bedeutenden Landes fungierte. Doch so war es. In dem kleinen Städtchen residierte der wohl legendärste Monarch des Ländles, Graf Eberhard im Barte (1445–1496), „Württembergs geliebter Herr“, wie ihm der Dichter Justinus Kerner bescheinigte. An diesen ehemaligen Herrensitz knüpfen heute fünf tolle Wanderwege an, die Bad Uracher Grafensteige. Einer davon ist der Wasserfallsteig.
Er wird zwar als „schwer“ eingestuft, aber so ernst sollte man das auch wieder nicht nehmen. Ins Schnaufen kommt man eigentlich nur beim Aufstieg hoch zur Alb. Dabei stößt man immer wieder auf solch fantastische Ausblicke, dass es Unfug wäre, einfach durchzuhetzen auf der Jagd nach der persönlichen Bestzeit. Der Reiz des Wanderns besteht ja nicht zuletzt im Stehenbleiben und Genießen. Und zu genießen gibt es auf dieser Tour viel.
Das spürt man schon kurz nach dem Start, wenn man entlang des Brühlbachs in ein romantisches Tal hineinwandert. Mit etwas Glück trifft man dort auf Fischreiher und Wasseramseln. Was die wilde Romantik des Tals ausmacht, ist nur deshalb heute noch spürbar, weil es mit seinen Auen einfach das bleiben konnte, was es schon immer war, und nicht durch technische Eingriffe vermeintlich optimiert, aber in Wahrheit vergewaltigt wurde.
Anmutig ist diese Szenerie am Brühlbach und zugleich grandios. Sie bietet zwar nicht die Urgewalt einer Klamm in den Alpen, aber gerade durch ihre Stille erreicht sie die Tiefe der Seele. Fast unweigerlich kommt einem am Brühlbach der Beginn des vom schwäbischen Freiheitsdichter Christian Friedrich Daniel Schubart verfassten Gedichts über „Die Forelle“ in den Sinn, das durch die Vertonung Franz Schuberts Weltruhm erlangte: „In einem Bächlein helle …“.
Ohnehin: Wasser – das ist das verbindende Element dieses Wanderwegs voller spektakulärer Höhepunkte. Am berühmtesten ist natürlich der Uracher Wasserfall, den im Ländle fast jeder Wanderer (freiwillig) oder Schulausflügler (zwangsweise) kennt. Ihn hat schon Eduard Mörike bedichtet:
Ein Wasserfall, mein Freund
Uns beiden wohlbekannt.
Wie manchmal standen wir davor,
An ihm berauschend Aug und Ohr
Da wir noch and’re Burschen waren.
Obwohl er mit 37 Metern Höhe im Vergleich zu den Niagarafällen im Grunde ein Nichts ist – der Anblick ist einfach gewaltig, wenn man am Fuß des Albtraufs steht. Nicht nur, weil der Wasserfall sich im freien Fall ins Tal stürzt, sondern auch, weil er sich am Ende in viele kleine Arme teilt und sein Aussehen Tag für Tag verändert, wenn es regnet sogar Stunde für Stunde. Die Bandbreite reicht von 70 bis 420 Liter, die pro Sekunde den Weg vom Berg ins Tal antreten. So schnell das Wasser drunt’ in der grünen Au angekommen ist, so lange braucht es, bis es die Felskante überhaupt erreicht hat: Für die vier Kilometer von der Quelle bei Würtingen dauert es durch den Karst der Alb mehr als einen Tag, rund 28 Stunden nämlich.
Der Uracher Wasserfall galt indes nicht immer nur als ästhetisches Highlight, das die romantische Seite im Betrachter ansprach. Zuweilen gab es an dem Kalktuff zu seinen Füßen auch ein ganz banales Interesse. Man schätzte ihn als Baumaterial. Zum Beispiel für die Amanduskirche drunten im Städtle. Übrigens: Die wurde vor zehn Jahren von der Denkmalstiftung Baden-Württemberg zum „Denkmal des Jahres“ erkoren. Wasser und Spiritualität: Diese Kombination findet sich auch am kleinen, aber nicht minder reizvollen Bruder des Uracher Wasserfalls. Der verbindet sich mit dem Namen Güterstein. So hieß eine ehemalige Kartause, von der heute so gut wie nichts mehr zu sehen ist. Aber dieser Ort am Beginn des Wasserfalls hat ebenfalls landesgeschichtliche Bedeutung. Dass sich an dieser Stelle einst ein bedeutendes Kloster befunden haben soll, kann man heute kaum glauben. Schon im frühen 13. Jahrhundert soll dort aber Konrad von Urach, seines Zeichens Kardinal und Generalabt der Zisterzienser, eine solche Anlage gestiftet haben.
Außer dem Wasserfallsteig gibt es noch vier andere Touren in der herrlichen Landschaft rund um Bad Urach, die allesamt wunderbare Eindrücke bieten:
Detaillierte Infos und Karten gibt es im Internet
unter www.badurach-grafensteige.de.
Nach Ende der Stauferzeit übernahmen zunächst Benediktiner aus der Abtei Zwiefalten die Anlage, anno 1380 wird eine Marienkapelle erwähnt, die von diesem Orden betreut und zum Wallfahrtsort wurde. Den württembergischen Grafen Ludwig I. (1412–1450) und Ulrich V. (1413–1480) waren jedoch die Kartäuser lieber, sodass sie diesem Orden die Kartause Güterstein überließen. Ab 1441 wurde sie sogar zur Grablege der Grafen von Württemberg erkoren. Nach der Reformation wurde indes das Kloster aufgelöst, die Gebäude wurden abgetragen und die noch erkennbaren Reste der Menschen in den Gräbern (zum Beispiel die des Grafen Ludwig und der Erzherzogin Mechthild) in die Tübinger Stiftskirche überführt. Bedeutung erreichte die Kartause Güterstein auch durch die geistliche Literatur, die dort verfasst wurde und sich nicht zuletzt an Laien richtete.
Noch etwas spielt bei dieser Wanderung eine große Rolle: Pferde. Ihnen begegnet man (genau wie den Wasserfällen) gleich zweimal. Wo einst vermutlich der Wirtschaftshof des Klosters stand, befindet sich heute der Gestütshof Güterstein, den Württembergs König Wilhelm I. in den Jahren 1819/20 errichten ließ. Dort wachsen Stutfohlen des Haupt- und Landgestüts Marbach auf. Und droben auf der Höhe durchwandert man den Gestütshof Sankt Johann, der aus einem ehemaligen Waldbruderhaus hervorgegangen ist. Schon seit dem 17. Jahrhundert werden dort am Albrand Rösser gehalten, und noch heute faszinieren dort die historischen Gebäude.
Die Kombination aus Natur und Landesgeschichte ist es, die an den Grafensteigen begeistert. Und gerade deswegen sollte man sich nach der Wanderung in der Stadt umschauen: Marktplatz, Schloss, Kirche und Stift – die sind Tüpfelchen auf dem i nach einem herrlichen Wandertag.
Start und Ziel: Wanderparkplatz
Maisental bei Bad Urach. Für Fans von Bus und Bahn ist der Bahnhof Bad Urach-Wasserfall ein idealer Einstieg, die Wanderstrecke verlängert sich dadurch insgesamt nur um gut einen Kilometer.
Strecke: 9 km
Gehzeit: in aller Gemütlichkeit 4 Stdn.
Höhenunterschied: gut 500 m
Schwierigkeit: mittelschwer, aber unbedingt gutes Schuhwerk tragen! Es gibt je nach Witterung auch rutschige Strecken.
Tipp: Nach der Wanderung lohnt ein Abstecher in die historische Innenstadt