Lange Zeit galt das Chorsingen unter jungen Leuten als gewaltig „uncool“. Nicht nur die mediale Unterstützung des Chorsingens ging zurück, auch der Stellenwert des Fachs Musik in den – zumal weiterführenden – Schulen und besonders das Singen in diesem Fachunterricht verkümmerte. Zunehmende Mobilität in verschiedenen Bereichen löste Bindungen an den Heimatort auf, in dem es häufig noch nicht lange zuvor aktive und personenstarke Chorgemeinschaften gegeben hatte.
Chorsingen also als Auslaufmodell? In einigen Formen wohl. Texte und Musik in trivialen Formen, die sich unter dem Dach mancher Gesangvereine behaglich eingerichtet haben, sind und werden fragwürdig. Das „feine Mägdlein“, dass „unter der Linde“ des Geliebten harret, ist weit sowohl von künstlerischem Anspruch wie auch vom Echo der Gegenwartswelt entfernt, auch wenn einige fremdsprachliche Texte Aktualität suggerieren wollen.
Doch Schwarz-Weiß-Zeichnung ist ebenso wohlfeil wie unzutreffend. Es kommt auf die Formen des Chorsingens an, die diese wunderbare Möglichkeit von Gemeinsamkeit lebendig machen und gerade auch junge Menschen begeistern können. Erfreulicherweise ist bei vielen von ihnen eine vermehrte Offenheit für anspruchsvolle Chormusik zu beobachten.
Es sind häufig gut ausgebildete junge Frauen und Männer, die ihr Hobby mit professionellem Anspruch betreiben möchten, die Trivialität ablehnen, im Chor mit wertvollen Kompositionen und Texten vertraut werden und so Teil der reichen musikalischen Tradition werden wollen – ohne aber im Traditionalismus zu erstarren. Selbstverständlich ist ihre Neugierde auf Modernes nur die andere Seite der Medaille, wobei die Grenze nicht zwischen E- und U-Musik verläuft, sondern zwischen Trivialität und Wertvollem. Die jungen Chorsingenden möchten etwas für ihre Stimme tun und fordern vom Chorleiter fundierte Kenntnis musikalischer und stimmerzieherischer Art.
„Singen ist Wellness für Körper und Seele“: davon bin ich überzeugt. Lockerungsübungen am Anfang einer Probe und vor dem Konzert sind unverzichtbar, das Bewusstmachen des physiologisch angemessenen Atems gehört sowohl zum Sport oder zur Meditation als auch zum Singen. Auf ihm strömt die Melodie, er ermöglicht das Erfahren der Resonanz und des Reichtums des Vokalklangs – und dies erst recht in einer guten Gemeinschaft.
Gerade Menschen, die nicht ausgeprägt extrovertiert sind und sich nicht allein vor Publikum zu singen trauen, profitieren vom Singen in der Gemeinschaft. Chorsingen schafft dabei etwas scheinbar Unmögliches: Es bewahrt die Individualität jedes einzelnen Chorsängers, führt jedoch zu einer gemeinsamen, von allen Chormitgliedern geteilten Erfahrung, die wiederum die Individuen im Schutz der Gemeinschaft wachsen lässt. Auch auf einer biophysikalischen Ebene wirkt das Singen: Die Resonanzen im Körper und darum herum überlagern sich und ergeben etwas, das reicher ist als die Summe der Einzelstimmen. Diese musikalischen Schwingungen setzen sich nicht durch simple Addition zusammen, sondern wachsen viel stärker, sowohl durch die Qualität als auch die Zahl der Chorsänger.
Um erfolgreich gemeinsam singen zu können, ist es notwendig, dass sich jeder Einzelne öffnet und sich der Gemeinschaft preisgibt. Der Chorleiter trägt an dieser Stelle eine große Verantwortung, denn er formt seine Chorsänger an sehr empfindlichen Stellen. Gerade Laien können sich nicht verstellen und sind auf den verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Stimme und ihrer Persönlichkeit angewiesen.
Es ist wichtig, auf die Gesundheit der Sänger zu achten, ihre Freude am Singen zu verstärken und ihnen gleichzeitig Souveränität in Atem, Stimme und Affektausdruck zu verleihen. Wenn dies gelingt, wird das Chorsingen zu einem positiven Gemeinschaftserlebnis werden, denn wie ein Chorsänger mir bestätigte: „Der Chor hat mir eine neue stabile Gemeinschaft gegeben, neue Freunde und großartige Erlebnisse. Ich fühle mich als ein Teil des Ganzen, glücklich und ausgewogen.“
Natürlich ist psychologische Betreuung nicht die Hauptaufgabe des Dirigenten, wenn auch eine außerordentlich wichtige. Unser „Kerngeschäft“ ist gutes Musizieren, in einem anspruchsvollen Chor ausgezeichnetes Musizieren, und dies erfordert – wie der Sport auch – Training, Disziplin und Leistungswillen. Ein guter Trainer vermag dazu zu motivieren, und das Glück, gemeinsam etwas Großes erreicht zu haben, lässt die Wahrheit des Sprichworts erfahren: „Geteilte Freud ist doppelte Freud“. Mindestens, so denke ich.
Unlösbar mit der musikalischen Leistung aber ist das positive Gemeinschaftserlebnis verbunden. Es genügt nicht, musikalisch richtig zu singen – das erbringt allenfalls kühle Perfektion. Zu den schönsten Kommentaren, die ich nach einem erfolgreichen Konzert hören durfte, gehört die Aussage eines Kritikers: „Dass der von Ihnen geleitete Chor hervorragend singt, habe ich ja erwartet. Mitreißend ist, mit welcher gemeinsamen Freude das Ensemble und Sie musizieren.“
Prof. Franz Wassermann MD, Musikdirektor an der Universität Heidelberg, schloss zunächst ein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Ruperto-Carola ab. Seine musikalische Ausbildung mit den Hauptfächern Dirigieren, Gesang und Orgel erhielt er in Karlsruhe, Rom, Stuttgart und Trossingen, unter anderem bei Helmuth Rilling.
Er unterrichtet an der Universität Heidelberg am Internationalen Studienzentrum (ISZ) sowie als Gast an Universitäten und Musikhochschulen in Armenien, Chile, Frankreich, Georgien, Italien, Kanada und den USA. Gastdirigent ist er beim Litauischen Kammerorchester Kaunas, bei der Staatlichen Georgischen Philharmonie Kutaissi und an der Armenischen Staatsoper Eriwan. Prof. Wassermann ist Stv. Vorsitzender der Künstlerischen Beirats im Bundesvorstand des Verbands Deutscher Konzertchöre (VDKC). Unter seiner Leitung wurden bisher 18 CDs veröffentlicht.