Redaktion NUSSBAUM
75365 Calw
Eine beispielhafte Erfolgsgeschichte

Ryyan Alshebl: Bürgermeister mit ungewöhnlichem Background

Aus Syrien ins Rathaus Ostelsheim. Ryyan Alshebls Geschichte ist eines sicher nicht: alltäglich. Ein Porträt eines besonderen Bürgermeisters.
Ryyan Alshebl im Flur des Ostelsheimer Rathauses.
Ryyan Alshebl im Flur des Ostelsheimer Rathauses.Foto: Ian Ehmert

Ostelsheim ist die östlichste Kommune im Landkreis Calw. Sie grenzt direkt an den Landkreis Böblingen. Mit gut 2.600 Einwohnern ist die Gemeinde ein beschauliches Fleckchen inmitten reizvoller Natur. So schön Ostelsheim auch ist, vermutlich kennen nur die wenigsten Menschen das Örtchen außerhalb der Orts- und Kreisgrenzen. Mit der Bürgermeisterwahl 2023 sollte sich das ändern.

Beispiel in vielerlei Hinsicht

Ryyan Alshebl sorgte mit seiner Kandidatur für Aufsehen – und noch mehr mit seiner eindeutigen Wahl zum neuen Rathauschef im April 2023. Der gebürtige Syrer lebt seit etwa acht Jahren in Deutschland und hat die „typische Fluchterfahrung“ hinter sich. Ein Aspekt, der Befürworter, Kritiker und auch die breite Masse in der Mitte aufhorchen ließ. Ryyan Alshebl ist ein Beispiel gelungener Integration, ein Beispiel für Ehrgeiz und beruflichen Fortschritt in der neuen Heimat, hat aber dennoch nie den Bezug zu seinen Wurzeln verloren. Er liebt und lebt Deutschland und Syrien gleichermaßen. Diese beiden Herzen in seiner Brust stehen nicht selten in Konflikt miteinander. Denn das anfänglich schmeichelhafte Medieninteresse aufgrund seiner ungewöhnlichen und inspirierenden Geschichte wendete sich vor Kurzem gegen den jungen Mann.

Beschauliches Dorf am Rand des Schwarzwalds: Ostelsheim.
Beschauliches Dorf am Rand des Schwarzwalds: Ostelsheim.Foto: Michael Fox/iStock/Getty Images Plus

Ein Stolperstein wird Meilenstein

Ryyan Alshebl wirkt wie ein besonnener Mensch, jemand, der durchaus spontan sein mag, aber nachdenkt, ehe er handelt. Insbesondere im beruflichen Kontext. 2015 zwangen ihn die Umstände in seiner Heimat auf ein kleines Schlauchboot, zusammen mit knapp 50 anderen. Viereinhalb Stunden dauerte die Fahrt über das Massengrab Ägäis. Eine Erfahrung, die Alshebl glücklicherweise verarbeiten konnte, die er jedoch keinem anderen wünscht. „Wie ich hierher gekommen bin, ist für alle Beteiligten schädlich“, findet er - als Mensch, als Geflüchteter und als Politiker. „Für mich war das zum Glück kein großer Stolperstein, aber ein Meilenstein.“ Egal, wie bescheiden der Alltag auch werde, wenn er heute daran denke, wo er vor neun Jahren war, findet er immer wieder die Gewissheit, dass alles gut wird. Wer derartiges überstanden hat, übersteht alles. Und Menschen wie Ryyan Alshebl gelingt es darüber hinaus noch, sich ihr Lächeln, eine freundliche und offene Art sowie eine reflektierte und differenzierte Denkweise zu bewahren.

Ryyan Alshebl konnte – trotz eines verbesserungswürdigen Integrationsmanagements – Fuß fassen. Bei seiner Ankunft 2015 sprach er kein Wort Deutsch, heute beherrscht er die Sprache fließend. Bei der Stadtverwaltung Althengstett fand er einen Ausbildungsplatz und erhielt Einblicke, die in ihm den Wunsch reifen ließen, einmal selbst Bürgermeister zu werden. „Ich habe mir gesagt: Wenn die richtige Zeit und der richtige Ort kommen, will ich Bürgermeister werden.“ Beides sei aber schwer zu definieren gewesen. „Es braucht natürlich eine gewisse Risikobereitschaft, die ich Vita-bedingt mitbringe“, sagt Alshebl grinsend. „Ich wusste, ein Wahlkampf in Ostelsheim kann nicht gefährlicher sein als meine Schlauchboot-Fahrt über die Ägäis.“ Sein Bild von dem Beruf habe sich weitestgehend bestätigt. Nur die Freizeit leide ein wenig unter den vielen Aufgaben. Immerhin haben sich Ryyan Alshebl, sein junges und motiviertes Team von der Verwaltung und der Gemeinderat, mit welchem die Zusammenarbeit sehr konstruktiv laufe, einiges vorgenommen.

Viel vor in Ostelsheim

Schon zu Beginn von Ryyan Alshebls Wahlkampf war die Kinderbetreuung ein großer Punkt. Die Einschränkungen des pädagogischen Angebots während der Pandemie hätten der Attraktivität der Gemeinde stark geschadet, beobachtet er. Ein erster Schritt war die Wiedereinführung der Nachmittagsbetreuung – dafür brauchte es aber Personal. Darum habe Ostelsheim verschiedene Benefits eingeführt, die bereits Wirkung zeigen. Zehn Stellen konnten besetzt werden, die Nachmittagsbetreuung findet wieder statt. Man sei noch nicht über den Berg, so der Bürgermeister, aber man mache große Fortschritte. Ein Naturkindergarten ist auf den Weg gebracht, die Fertigstellung sei vor Ende des Winters zu erwarten. Ein „großer Act“ war die Erstellung eines Gemeindeentwicklungskonzeptes, das als Leitbild für die nächsten 16 Jahre dienen soll. In diversen Klausursitzungen, unter Beteiligung der Bürgerschaft und mit fachlicher Beratung sei ein „respektables Dokument“ entstanden, findet Alshebl. Die Bewerbung auf ein Sanierungsgebiet läuft, Ostelsheim hofft auf einen Förderrahmen in Höhe von 7 Millionen Euro. Ein wichtiges Ziel ist für Ryyan Alshebl die Klimaneutralität. Ostelsheim will so viel CO2 einsparen, wie in der Gemeinde bilanziell ausgestoßen wird. Hier ist man auf dem besten Weg. So ist der Bau von drei Windkraftanlagen bereits bei den Stadtwerken Tübingen beauftragt. Eine kommunale Wärmeplanung, die ab 2028 ohnehin verpflichtend sein wird, steht ebenfalls auf der Agenda.

Großes Interesse

Was Ryyan Alshebl seit seinem Amtsantritt im Juni 2023 bewegt hat, wird jedoch ein wenig in den Hintergrund gedrängt. Etliche Anfragen verschiedenster Medien, sogar aus Japan und Südkorea, haben ihn vor und nach der Wahl erreicht. Jeder interessierte sich für seine besondere Geschichte. Der Bürgermeister war überrascht, fühlte sich geehrt und nutzte die Chance für kulturellen Austausch. Dabei erfuhr er unter anderem, dass die Integration in Japan und Südkorea deutlich schwieriger sei als in Deutschland. Immerhin seien sich Syrien und Deutschland kulturell wesentlich näher. Auch wenn die deutsche Sprache anspruchsvoll zu erlernen sei – „der erste Schritt im Land ist viel einfacher“. Die Deutschen seien viel offener, was unter anderem seine Wahl zum Bürgermeister beweise. Dennoch sieht sich Alshebl nicht als Referenz, es gebe durchaus Schwierigkeiten bei der Integration, extremistische Gruppen und eine Radikalisierung auf der einen Seite sowie problematische Migranten auf der anderen. Verschwörungstheorien gewinnen an Befürwortern. Auch genieße der Islam keinen guten Ruf in der Bundesrepublik. Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg hätten das noch verschlimmert. Seine persönliche Erfahrung ist jedoch: „Die deutsche Mitte ist weltoffen.“

"Konservativ ist nicht gleich rechts"

Ryyan Alshebl distanziert sich allerdings von jeglicher Pauschalisierung. „Politisch konservativ ist nicht dasselbe wie rassistisch oder rechts eingestellt.“ Von den tendenziell konservativen, älteren Menschen – gerade „hier auf dem Land“ – erfahre er Unterstützung und Wohlwollen. „Konservative Menschen lassen sich überzeugen und hat man sie erstmal für sich gewonnen, ist es egal, woher man kommt.“ Tatsächlich sei es viel ungewöhnlicher, dass jemand mit einem grünen Parteibuch gewählt wurde (auch wenn Alshebl als Bürgermeister parteilos angetreten ist). Die Menschen vor Ort interessiere viel mehr als der Hintergrund, wer gute Ideen für den Ort mitbringe.

Schattenseiten des Ruhms

Dennoch ist Ryyan Alshebls Hintergrund nach wie vor Thema, jedoch nicht mehr auf so positive Weise wie zu Beginn. „Ich wurde deutlich bekannter als geplant“, erzählt er. In den letzten Wochen hatte er mit Shitstorms zu kämpfen, da er sich in einem Gastartikel in der Zeit und beim SWR kritisch über die Migrationspolitik Deutschlands geäußert hatte. Seine eigentliche Aussage sei dabei - teilweise bewusst - missverstanden worden, eine falsche Interpretation davon wurde im arabischen Fernsehen ausgestrahlt – inklusive vernichtendem Kommentar über seine Person. Seine Arbeit und seine eigentliche Meinung spielten keine Rolle. Ryyan Alshebl erfuhr, als er nach einer langen Gemeinderatssitzung nach Hause kam und den Fernseher anschaltete, über YouTube, dass ihn die Medien soeben als Landesverräter gebrandmarkt hatten. „Das war ein reines Bashing, warum ich mich gegen Migranten stellen würde“, erzählt er noch immer ein wenig fassungslos. „Das hat mich natürlich umgetrieben.“ Bis heute werde er angefeindet, vor allem in der Community der Geflüchteten.

Video: Ryyan Alshebl fordert strengere Migrationspolitik

Migration als gesamtgesellschaftliches Thema

Was dabei vollkommen unterging: Ryyan Alshebl ging es darum, illegale Migration, den Weg, den er selbst unter größten Gefahren gewählt hat, überflüssig zu machen. Gleichzeitig müsse Migration und Integration vereinfacht werden. „Wir müssen verstehen, dass wir mit dieser Frage gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich umgehen müssen.“ Derzeit nähere man sich den Themen lediglich aus innenpolitischer Sicht, doch handle es sich um ein außenpolitisches Phänomen. „Und darauf müssen wir reagieren, wir müssen das Problem im ganz großen Kontext begreifen. Denn wieso entscheiden sich Leute, ihre Heimat zu verlassen? Warum werden manche hier kriminell, während andere ganz hervorragende Leistungen erbringen? Wieso entstehen so oft Probleme bei der Integration von Erstklässlern?“ Ryyan Alshebl bringt praktische Erfahrungen in Sachen Flucht, Verwaltung und Politik mit, die ihn genau diese Schwachstellen im System sehen lassen. „Wir reagieren nur auf die Probleme, fragen uns aber nicht nach der Ursache.“ Migration sei keinesfalls nur ein Thema der Ordnungspolitik.

Ryyan Alshebl ist also keinesfalls gegen Migranten eingestellt, sieht er sich doch nach wie vor selbst als einer. Daher seine eingangs erwähnte Einschätzung: „Wie ich selbst hierher gekommen bin, ist für alle Beteiligten schädlich“, weiß er. „Die Ägäis ist ein Massengrab.“ Gleichzeitig sei man vor Ort in den Kommunen überfordert. Als jemand, der in eine Rolle hineingewachsen ist, die offensichtlich über die Gemeindegrenzen von Ostelsheim hinaus geht, begreift sich Ryyan Alshebl als gesellschaftlicher Vermittler. „Es gibt kein Allheilmittel, aber wir brauchen eine vernünftige Lösung. Wir müssen verhindern, dass Menschen sterben, müssen aber auch etwas gegen unsere Überlastung vor Ort unternehmen.“ Aus seiner Sicht habe aktuell leider keine politische Partei eine Lösung für ein gut funktionierendes Migrations-System. Er erwartet – vor allem von den Grünen und der SPD – einen dritten Weg und die Ordnung der Migration. Es sei gerecht, dass nicht jeder gleich Asyl erhalte, doch müsse man den Menschen eine Alternative aufzeigen und eine Perspektive geben. „Wir müssen Sorge dafür tragen, dass möglichst wenige diesen schrecklichen Weg übers Meer kommen.“

Unschöne Erfahrungen

Wie aktiv sich Menschen wie Ryyan Alshebl für ihre Überzeugungen noch einsetzen, wenn sie in den Medien subjektiven Anfeindungen ausgesetzt sind, wird sich zeigen. „Das war das erste Mal, dass ich mich im Fernsehen gesehen habe“, erzählt er. „Die Nacht war nicht schön.“ Man meine etwas Gutes, sei einer Community gegenüber vollkommen wohlwollend eingestellt, begreife sich als vollwertiger Teil dieser Community, habe dieselben Etappen bewältigt – „und plötzlich wirst du als Verräter dargestellt. Das hat mich stark beschäftigt.“ Sucht Ryyan Alshebl am Wochenende ein Stückchen Heimat in arabischer Gesellschaft, nehmen ihn die Menschen weniger freundlich auf, auch wenn sie ihn nicht offen anfeinden. In den sozialen Medien werde er aufs Übelste beschimpft. Das habe mit ihm als Bürgermeister und seiner Arbeit überhaupt nichts zu tun. Doch frage er sich seither hin und wieder: „Ist es das, was du wirklich wolltest?“ (jg)

Video: Ryyan Alshebl im SWR-Porträt

Medien-Macht und Verantwortung - ein Kommentar

Macht und Verantwortung. Große Worte, Worte für Politiker, für „Machthaber“, für die anderen. Oder nicht? Wie viel Macht – und damit auch Verantwortung – haben wir eigentlich? Die Medien als verschwommenes Konstrukt in der Ferne haben eindeutig Einfluss auf die Meinungsbildung. Sollten wir daher nicht besonders achtsam sein, wenn wir Geschichten veröffentlichen? Es lässt einen nachdenklich werden, was man als „kleiner Schreiberling“ alles in Gang setzen kann. Und wie man Menschen unter Umständen auch schaden kann, mit der Veröffentlichung von nur einer unbedachten Story. Falls sie überhaupt so „unbedacht“ war, wie man annehmen möchte. „Clickbaiting“ hat längst die einst so seriösen und vertrauenswürdigen Medien erreicht. Zu Lasten derer, über die berichtet wird. Schon Konrad Adenauer wusste: „Macht und Verantwortung sind untrennbar miteinander verbunden.“ Ein kleines Stück dieser Macht haben die Sozialen Medien jedem einzelnen mit einem Internetzugang gegeben – und damit auch ein Stück Verantwortung, respektvoll und achtsam mit dieser Macht umzugehen.

Jacqueline Geisel

Erscheinung
exklusiv online

Orte

Ostelsheim

Kategorien

Kommunalpolitik
Politik
von jg/Redaktion NUSSBAUM, Region Calw
09.11.2024
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