
Helga betrachtete ihre Teetasse auf dem liebevoll gedeckten Tisch. Beim Anblick der Schneeflocken auf der kleinen Porzellantasse füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Was hast du, Mama?“, fragte Marie. Sie streckte ihren Arm über den Tisch und streichelte die Hand ihrer Mutter. „Denkst du an Papa?“
Helga schaute auf und lächelte traurig. „Ja, Marie. Wie jedes Weihnachten.“ Sie trocknete ihre Tränen mit der Weihnachtsbaumserviette. „Karl liebte Weihnachten. Vor allem liebte er den Schnee.“
„Möchtest du noch einen Tee, Helga?“
Die Stimme ihres Schwiegersohns riss sie aus ihren Gedanken. Sie ließ sich von Thomas Tee nachschenken und betrachtete dabei ihren Enkel. Er stand schon eine halbe Ewigkeit am Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. „Was suchst du denn da draußen, mein Schatz?“
Der kleine Mika drehte sich zu seiner Oma um und antwortete: „Ich warte auf den Weihnachtsmann.“ „Aber Mika, der Weihnachtsmann war doch schon da.“ Marie zeigte zum Weihnachtsbaum. „Du hast deine Geschenke schon alle ausgepackt.“ Mika schürzte die Lippen. „Aber das, was ich mir am meisten gewünscht habe, hat er vergessen.“ Thomas stöhnte. „Na hör mal, junger Mann. Du hast so viele Geschenke bekommen.“ Mika verschränkte die Arme vor der Brust und stapfte zum Weihnachtsbaum.
Helga sah aus dem Fenster und seufzte. „Ach, ja. Seit fünf Jahren gab es keine weiße Weihnacht mehr. Seit Karl weg ist.“ Sie beobachtete, wie Thomas seiner Marie zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht strich. „Als hätte Papa den Schnee mitgenommen“, sagte Marie mit bebender Stimme.
„Entschuldige. Seit fünf Jahren heule ich euch die Ohren voll, dass ich meinen Karl und den Schnee vermisse.“ „Uns geht es doch genauso, Helga“, sagte Thomas tröstend.
Während ihr Schwiegersohn den Tisch abräumte, gesellte sich Helga zu ihrem Enkel. „Magst du mir sagen, was du dir gewünscht hast?“ Der Kleine schüttelte den Kopf und spielte lustlos mit seinem neuen Auto.
„Ich bringe mal den Müll raus, sonst stinkt morgen das ganze Haus nach Käse“, kündigte Thomas an und lief zur Haustür. Marie kicherte. „Warte, ich helfe dir“, sagte sie und folgte ihm.
„Helga, Mika! Kommt schnell, das müsst ihr sehen!“
Mika rannte zu seinem Papa an die Tür. Helga ging langsam hinterher. „Der Weihnachtsmann war da!“, jubelte Mika, lief zurück zu seiner Oma, nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her. „Nicht so schnell, mein Schatz.“
An der Haustür angekommen traute Helga ihren Augen nicht. Die Nacht zeichnete ein märchenhaftes Gemälde. In den Fenstern funkelten prachtvolle Schwippbögen, ein Weihnachtsbaum präsentierte stolz seinen zauberhaften Schmuck und tauchte die Straße in goldfarbenes Licht, in dem kleine Schneeflöckchen tanzten, bevor sie sich in ihr weißes Bett kuschelten. Eine sanfte Wärme erfüllte Helgas Herz. „Karl“, hauchte sie. Dann bückte sie sich zu Mika hinunter. „Magst du mir jetzt erzählen, was du dir gewünscht hast?“
Mika umarmte seine Oma und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich habe mir Schnee für meine Oma gewünscht.“
Corinna Rügen, Bad Liebenzell
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